Zuzahlungsregelung für Langzeitpsychotherapie
gefordert.
Minister Gerster bei der KV-Berlin
Herr Gerster ignoriert alle Leitsätze seiner Partei, der SPD. Er ignoriert auch den wissenschaftlichen Anspruch seines Grundberufs als Psychologe.
Die KV-Berlin hatte den rheinland-pfälzischen Gesundheitsminister Florian Gerster zu einem Forum eingeladen, auf dem er seine Vorstellungen zur Gesundheitsreform 2003 erneut proklamierte. Neu war, daß er seine frühere Behauptung, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie könne mit geringerem Aufwand durch andere Psychotherapieverfahren ersetzt werden, nicht mehr wiederholte. Jetzt will er Langzeitpsychotherapien, womit er nunmehr auch Verhaltentherapien einbezog, mit einer Zuzahlung belegen. Damit folgt er einer alten F.D.P-Forderung, an der das Psychotherapeutengesetz fast gescheitert wäre und gegen die seine Partei schon immer Sturm lief.
Gerster kritisierte die Psychotherapeuten, sie würden ihre Verfahren nur schulenabhängig evaluieren und hilfreiche Arzneimitteltherapien vernachlässigen. Dabei unterläuft ihm immer wieder der Fehler, daß er sich z.B. auf die alten „Grawe-Untersuchungen" stützt, deren Zahlen längst auch von Statistikern in Frage gestellt worden sind. Außer acht lässt er völlig die zahlreichen neuesten Wirksamkeitsuntersuchungen, die der oft kritisierten Psychoanalyse und den tiefenpsychologischen Verfahren eine Effektivität nachweisen, die sich, was gerade einen Sozialpolitiker wie Gerster interessieren müßte, im signifikanten Rückgang von Krankenhausaufhalten und Arbeitsunfähigkeitstagen nachweisen läßt.
Nun wird immer wieder einmal gefragt, was es denn gegen Zuzahlung einzuwenden gäbe, wenn die Finanzierung der GKV anders nicht gesichert werden könnte ?
Diese Frage wurde aber schon bei den Diskussionen um die Einführung des PTG mehrheitlich von den Verbänden und vom Bundestag beantwortet.
Solange die Zuzahlung nicht allgemein bei allen Leistungen der Krankenkassen eingeführt wird, ist es eine Diskriminierung der psychisch Kranken, würde man mit ihnen beginnen, das Solidarprinzip der GKV zu verletzen. Es darf nicht sein, daß man mit den psychisch Kranken anfangen will, um das marode Sozialsystem retten zu wollen.
Wenn selbst der Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft schon 1999 erklärte, es ließen sich 800 Millionen einsparen, wenn auf
überflüssige Röntgenaufnahmen verzichtet würde, dann wäre der damals geschätzte Fehlbetrag von 600 Millionen für Psychotherapie
ausgeglichen.
(Siehe auch: "Wo krieg ich nur die Mäuse her?")Gerster kritisierte die Psychotherapeuten, sie würden ihre Verfahren nur schulenabhängig evaluieren. Dabei vernachlässigt er eine schon ältere Diskussion:
"Artikel 5 (3) des Grundgesetzes bestimmt: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung".
Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Artikel (Entscheidung 47,327/367) dahingehend interpretiert: Die Wissenschaftsfreiheit schützt "die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen beim Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe". Forschung ist der "nach Inhalt und Form... ernsthafte und planmäßige Versuch zur Ermittlung der Wahrheit". Auch die Gründung privater Forschungseinrichtungen fällt in den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit. Ebenso fällt die Lehre unter diesen Schutzbereich. Sie muß selbständig und frei von Weisungen durchgeführt werden.
Die Wissenschaftsfreiheit steht jedem zu, der eigenverantwortlich in wissenschaftlicher Weise tätig ist oder tätig werden will, also nicht nur Hochschullehrern. Darüber hinaus kommt die Wissenschaftsfreiheit auch juristischen Personen zugute, die Wissenschaft betreiben und organisieren. Private Einrichtungen können sich, auch im Hinblick auf die Gründung, auf die Wissenschaftsfreiheit berufen, sofern sie als wissenschaftlich eingestuft werden können, insbesondere den beschäftigten Wissenschaftlern einen ausreichenden Spielraum einräumen.
Die Wissenschaftsfreiheit gewährleistet aber vor allem "ein Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozeß der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse."
Im Bereich des Gesundheitswesens mußte Artikel 5 des Grundgesetzes bisher u.a. bei der wissenschaftlichen Anerkennung der Homöopathie greifen. Manche meinten, als wissenschaftlich sei nur anzuerkennen, was der herrschenden, naturwissenschaftlich geprägten Lehrmeinung entspricht. Das war jedoch nicht haltbar, wie z.B. die ÄrzteZeitung vom 22.7.98 berichtet, "denn Artikel 5 des Grundgesetzes garantiere wissenschaftlichen Pluralismus und damit auch den Bestand von der herrschenden Sicht der Dinge abweichender Therapierichtungen." - Berliner Blätter vom 22.7.98 -
Auch das 2. NOG fordert, daß die Anerkennung neuer Behandlungsmethoden nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse
"in der jeweiligen Therapierichtung" zu erfolgen hat.Denn der Bundestag hat mit dem zweiten Neuordnungsgesetz (2. NOG) einen möglicherweise weitreichenden Zusatz eingeführt. Danach sind neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Teil des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Einzige Voraussetzung: Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen muß eine Empfehlung über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens einer neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit abgeben. Dazu richtet er sich nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse "in der jeweiligen Therapierichtung". Das sollte auch der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie bei der Bundesärztekammer berücksichtigen.
(Versteht sich der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie als "Hoher Rat"?)Die Berliner Blätter für Psychoanalyse und Psychotherapie verkennen die sozialrechtlichen Probleme nicht.
So kommentierte z.B. Dr. Hermann Schulte-Sasse, seinerzeit Leiter des Stabsbereiches Medizin im AOK-Bundesverband diese Neuregelung.:
"Die damit gesetzlich vorgegebene Arbeitsgrundlage des Bundesausschusses sei eine wesentliche Änderung gegenüber der bisherigen Formulierung und drohe in Zukunft eine Steuerung der Behandlungsmethoden unter qualitativen Aspekten beträchtlich zu erschweren; statt einer allgemein gültigen Grundlage solle künftig der "Binnenkonsens" der jeweiligen Therapierichtungen Basis der Entscheidung des Bundesausschusses sein. Dem Zusatz liege der weitverbreitete Irrtum zugrunde, daß sich der therapeutische Nutzen einer Behandlung nur auf eine für die jeweilige medizinischen Schule typische Weise ermitteln ließe. Zur Bewertung des therapeutischen Nutzens einer Behandlung sei aber nicht das Erklärungsmodell einer "Schule" (naturwissenschaftlich, homöopathisch, anthroposophisch etc.) von Interesse, sondern die Frage, ob eine bestimmte Behandlung auf eine bestimmte Erkrankung mit größerer Wahrscheinlichkeit einen günstigen Einfluß ausübt als eine Nichtbehandlung. "Zur Klärung des zu erwartenden Nutzens und der Risiken einer Behandlung werden nicht naturwissenschaftliche Theorien zugrundegelegt, sondern der Sozialwissenschaft entlehnte Verfahren der Statistik und Epidemiologie". Dies entspreche dem Prinzip einer Erfahrungsmedizin, die nach transparenten Regeln arbeitet. Dem habe auch die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes entsprochen. Mit dem nun beschlossenen Zusatz werde diese "vernünftige, von Glaubenssätzen unabhängige Praxis" gefährdet."
Es ist höchste Zeit
Es ist einem Politiker wie dem rheinland-pfälzischen Gesundheitsminister Florian Gerster nun allerdings nicht zu verargen, wenn er für seine politischen Reden in die gleiche Kiste abgelegter Argumente greift, die auch in den psychotherapeutischen Verbänden immer noch populistisch herhalten muß, wenn sie sich hinsichtlich der Wirksamkeit der einzelnen von ihnen vertretenen Psychotherapieverfahren gegenseitig abwerten. Eine Verdichtung übelster Populistik dieser Art findet man in einer Online-Zeitung, die mit ihrer Website-Adresse (URL) auch noch den Anspruch vorgaukelt, die gesamte Psychotherapie zu repräsentieren.
Bleibt zu hoffen, daß neben
dem Punktwert- und Punktzahlgerangel der KV-Zugelassenen und der darin involvierten Verbände
und der Maßschneiderei des sich über die Forderungen des Psychotherapeutengesetzes hinausgehenden und sich deshalb unberechtigt Aufgaben anmaßenden "Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie bei der Bundesärztekammer"
die neu konstituierten Psychotherapeutenkammern sich dieser Debatte zuwenden und ihr höchste Priorität zuweisen. Möge in ihnen dann auch die Weisheit walten, daß für die dann zu bildenden Kommissionen nicht unbedingt die alten Verbandsfunktionäre geeignet sind. Es ist schwer, für die Freiheit der psychotherapeutischen Wissenschaft und ihrer Anwendung einzustehen, wenn man zugleich den Eigeninteressen von Verbänden und deren Mitglieder verpflichtet ist.
Gerd Böttcher.
Zum Auftritt des Ministers Gerster in Berlin siehe auch
http://www.aerztezeitung.de/docs/2002/02/18/031a0102.asp?cat=/politik/gesundheitsreform