Sehr geehrter Herr Böttcher,
Können Sie einen Auszug aus dem folgenden Text veröffentlichen?
Herzliche Grüße
Ihr
Hans-Jürgen Wirth
Priv.-Doz. Dr. Hans-Jürgen Wirth
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Horst-Eberhard Richter in das Ehrenpräsidium der DGPT gewählt
Die Mitgliederversammlung der DGPT hat während ihrer Versammlung am 12.September 2003 in Würzburg einstimmig (ohne Gegenstimmen und ohne Enthaltungen) Horst-Eberhard Richter in das Ehrenpräsidium der DGPT gewählt.
Die Laudatio hielt DGPT-Mitglied PD Dr. Hans-Jürgen Wirth, Psychoanalytiker und Verleger in Gießen:
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Es war 1970, zu Beginn meines Psychologie-Studiums, als ich Horst-Eberhard Richter zum ersten Mal begegnet bin, und zwar im Rahmen einer studentischen Initiativgruppe, die in dem Gießener Obdachlosengebiet »Eulenkopf« sozialpolitisch und sozialtherapeutisch tätig war. Seitdem habe ich ihn in vielen unterschiedlichen Situationen kennen gelernt: als wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem von ihm geleiteten Zentrum für Psychosomatische Medizin in Gießen, in zahlreichen Forschungsprojekten, bei einer gemeinsamen Reise ins damals noch kommunistisch regierte Moskau, wo wir unser Forschungsprojekt über »Russen und Deutschen« mit unseren russischen Kollegen besprachen, beim gemeinsamen Engagement in der Friedensbewegung und in den letzten Jahren als Verleger seiner Bücher.
Auf all diesen Erfahrungen und Eindrücken gründen sich meine folgenden Ausführungen. Ich beginne mit einigen Bemerkungen zu seiner Biographie, die ich sowohl seinen persönlichen Erzählungen als auch seinen beiden autobiographischen Büchern
»Die Chance des Gewissens« und »Wanderer zwischen den Fronten« entnommen habe.
Am 28. April 1923 in Berlin geboren, wuchs Horst-Eberhard Richter als Einzelkind auf. Die Mutter schildert er als eine emotionale Frau, die sich stark an ihn geklammert habe. Den Vater, ein erfolgreicher Ingenieur und Abteilungsleiter einer großen Firma, erlebte er als einen "stillen, in sich gekehrten Grübler³. Nach Hitlerjugend und Arbeitsdienst wurde Richter achtzehnjährig zum Militär eingezogen und diente in einem Artillerieregiment an der Front in Russland. Kurz vor der Verlegung seiner Truppe nach Stalingrad erkrankte er an einer lebensgefährlichen Diphtherie. Mit 22 Jahren geriet er in Kriegsgefangenschaft und erfuhr erst bei seiner Rückkehr vom Tod seiner Eltern, die zwei Monate nach Kriegsende auf einem Spaziergang nahe ihres Dorfes von zwei betrunkenen Russen ermordet worden waren.
Nach Studien der Medizin, Philosophie und Psychologie in Berlin promovierte Horst-Eberhard Richter 1949 zum Dr. phil. und 1957 zum Dr. med. 1950 begann er seine psychoanalytische Ausbildung am Berliner Psychoanalytischen Institut, die er 1954 abschloss. Bereits fünf Jahre später, 1959, wurde Richter Leiter des Berliner Psychoanalytischen Instituts und übte diese Funktion bis 1962 aus. Gerade 41-jährig wurde Richter 1964 zum Vorsitzenden der DPV gewählt und engagierte sich in dieser Position bis 1968.
Im Jahr 1963, ein Jahr nachdem er auf den zweiten deutschen Lehrstuhl für Psychosomatische Medizin in Gießen berufen worden war, publizierte Horst-Eberhard Richter sein Buch "Eltern, Kind und Neurose. Zur Psychoanalyse der kindlichen Rolle in der Familie". Kurioserweise war dieses Buch als Habilitationsschrift abgelehnt worden. Richter wurde ohne Habilitation Professor und für drei Jahrzehnte Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Psychosomatische Medizin an der Universität Gießen. Sein Buch wurde in den folgenden Jahren zum einflussreichen Grundlagenwerk für die neue psychoanalytische Behandlungsmethode der Familientherapie, die er im deutschsprachigen Raum als erster entwickelte. Seine Theorie verstand das Fehlverhalten von Kindern als symptomatischen Ausdruck eines unbewussten Konfliktes, an dem die Eltern bzw. die ganze Familie leidet. Der Konflikt des Kindes wird hervorgerufen durch die "Narzisstischen Projektionen der Eltern auf das Kind" (Richter 1960) so der Titel seines Aufsatzes 1960 im "Jahrbuch der Psychoanalyse"
Diese Gedanken sind uns heute so vertraut, dass man sich kaum noch vorstellen kann, wie revolutionär und damit sowohl anziehend als auch irritierend sie damals sowohl auf die psychoanalytische Fachwelt als auch auf das interessierte Laien-Publikum wirkten.
Als Richter 1970 sein zweites grundlegendes Buch zur psychoanalytischen Familientherapie "Patient Familie" veröffentlichte, war er bereits ein bekannter Autor und die psychoanalytische Familientherapie befand sich auf dem besten Wege dazu, ein einflussreiches psychotherapeutisches Konzept zu werden.
In den 70er Jahren griff Richter die Stimmung und die neuen Ideen der sich im Aufbruch befindlichen Generation auf. Er reflektierte aber auch die inneren Brüche, die überzogenen Ansprüche, die man an sich selbst und an andere stellte und half auf diese Weise mit, dass realistischere politische Konzepte entwickelt wurden. Ich fühlte mich durch Richters Gedanken angezogen und seine Bücher begleiteten mich in diesen Jahren.
"Die Gruppe" (1972), "Lernziel Solidarität" (1974), "Flüchten oder Standhalten" (1976), "Engagierte Analysen" (1978) und "Der Gotteskomplex" (1979).
Ich vermute, vielen von Ihnen wird es ähnlich ergangen sein.
Von den sozialpolitischen Experimenten der siebziger Jahre und den neuen Arbeitsansätzen der Initiativ-, Spontan- und Selbsthilfegruppen, von denen Richter inspiriert wurde und die er seinerseits inspiriert hat, gingen weit reichende Innovationen im Bereich psychosozialer Beratung und Therapie aus.
Engagiert beteiligte sich Richter an der Reform der deutschen Psychiatrie, wofür er 1980 den Theodor-Heuss-Preis erhielt. Bei seiner Arbeit an der "Psychiatrie-Enquete" kooperierte Richter sehr eng mit der DGPT. In diesem Zusammenhang nahm die DGPT auch seinen Vorschlag auf, das P im Namen der DGPT um das Fachgebiet "Psychosomatik" zu ergänzen.
Durch seine publizistischen Aktivitäten zu denen auch die Gründung der Zeitschrift »psychosozial« gehört, aus der dann später der Psychosozial-Verlag hervorging trug er maßgeblich dazu bei, dass diese Experimente keine Einzelerscheinungen blieben, sondern, auch dank seiner Funktion als Vermittler, Botschafter, Interpret und kritischer Begleiter der "Neuen Sozialen Bewegungen", zu Vorläufern einer Bewusstseinsveränderung wurden, die unsere Gesellschaft bis heute nachhaltig geprägt hat.
Eine Vorreiterrolle nahm Richter auch in Bezug auf die Kooperation zwischen Psychoanalyse und empirischer Psychologie ein: Zusammen mit Dieter Beckmann entwickelte er schon Anfang der siebziger Jahre den "Gießen-Test" (Beckmann, Richter 1972), bei dessen Konzeption psychoanalytisch relevante Kategorien ein besonderes Gewicht haben. Die Existenz eines psychoanalytisch fundierten Tests, der auch bei den Methodikern der Anerkennung fand, erlaubte ganzen Generationen von Forscherinnen und Forschern, sich in der empirischen Psychologie und in der Medizin wissenschaftlich zu qualifizieren, ohne ihre psychoanalytische Orientierung aufgeben zu müssen. Nicht wenige psychoanalytische Kolleginnen und Kollegen verdanken ihre wissenschaftliche Karriere nicht zuletzt dem Gießen-Test und damit Richters frühzeitiger Öffnung der Psychoanalyse für die empirische Forschung. Unter Richters Leitung betrieben wir in Gießen schon in den siebziger Jahren Psychotherapie-Verlaufsforschung, mit der wir die Wirksamkeit von Psychotherapie untersuchten. Wie wir alle wissen, ist die Psychotherapie-Forschung unter dem Druck der Gesundheitsreform inzwischen auf breiterer Ebene ins Blickfeld der Psychoanalyse geraten.
Bereits ab 1980 engagierte sich Richter in der Friedensbewegung und war 1981 einer der maßgeblichen Gründer der westdeutschen Sektion der Ärzte gegen den
Atomkrieg (IPPNW). Er beeinflusste die politische und inhaltliche Orientierung dieser bundesdeutschen IPPNW von Anfang an in Richtung Basisdemokratie. Er verfasste die berühmte "Frankfurter Erklärung", in der jeder Unterzeichner sich mit seiner Unterschrift dazu bekannte, sich jeglicher kriegsmedizinischen Schulung und Fortbildung zu verweigern. 1985 wurde der IPPNW der Friedensnobelpreis verliehen. Das Engagement in der Friedensbewegung gewann immer größeres Gewicht in Richters Leben. Als die Friedensbewegung nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 von den Medien für tot erklärt wurde, organisierte Richter als Antwort darauf zusammen mit der IPPNW den enorm erfolgreichen Kongress "Kultur des Friedens" (Richter 1999). Im Mai dieses Jahres veranstaltete er zusammen mit der IPPNW einen Folgekongress "Aufstehen für die Menschlichkeit«, der sich kritisch mit dem Irak-Krieg auseinandersetzte und an dem wieder etwa 1000 Menschen teilnahmen.Horst-Eberhard Richter hat nicht nur seine theoretischen Interessen, sondern auch seine praktischen Forschungsstrategien und schließlich auch seine Versuche der praktisch-therapeutisch-politischen Beeinflussung vom Individuum auf die Zweierbeziehung, von dort auf die Familie, von der Familie auf die Gruppe, von der Gruppe auf den Stadtteil und die regionalen psychosozialen Versorgungssysteme ausgeweitet, um bei sozialen Bewegungen, politischen Entscheidungsträgern (man denke an sein Buch »Die hohe Kunst der Korruption«), der Interaktion zwischen Staaten (vergleiche sein Buch »Russen und Deutsche«) und schließlich bei philosophischen Betrachtungen (beispielsweise in seinem Hauptwerk »Der Gotteskomplex«) anzukommen.
Es bedurfte eines großen Mutes und eines starken Selbstvertrauens, um mit der sozialen Isolationsdrohung und Ächtung fertig zu werden, die Richter aus der Professoren-Kollegenschaft der Ärzte, teilweise aber auch von seinen Psychoanalytiker-Kollegen nicht selten entgegenschlug. Indem Richter sich beharrlich der Auseinandersetzung mit dieser Kollegenschaft stellte, gewann er die Kraft, sich von den Zwängen und Denkverboten zu distanzieren. Ich schätze bei Richter besonders, dass er ein Neuerer des psychoanalytischen Denkens ist, der den Kontakt zur Psychoanalyse nicht abgebrochen hat, der keine eigene, mehr oder weniger sektiererische Schule gegründet hat, wie wir es aus der Geschichte der Psychoanalyse so häufig kennen. Vielmehr hat er seine Gedanken in den Strom der psychoanalytischen Diskussion einfließen lassen. Bezeichnenderweise war er es, der seit seiner Emeritierung in Gießen von 1992 bis 2001 die Leitung des unmittelbar von der Schließung bedrohten Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt übernahm und dieses in eine gesicherte Zukunft führte.
Richter wirkt in der Öffentlichkeit als ein Botschafter der Psychoanalyse, der in Deutschland neben Alexander Mitscherlich wie kein anderer dazu beigetragen hat, dass psychoanalytische Argumente in der Öffentlichkeit Gehör finden. Mit seinen Publikationen, die sich an eine breite Leserschaft richten, betreibt er eine Art "psychoanalytischer Volksaufklärung", wie sie in den Anfängen der psychoanalytischen Bewegung zum Selbstverständnis vieler Psychoanalytiker gehörte. Sowohl die Psychoanalyse in Deutschland als auch die Öffentlichkeit haben dem "psychoanalytischen Publizisten" Richter viel zu verdanken: Unzählige Menschen sind durch ihn darauf aufmerksam gemacht worden, dass es so etwas wie Psychoanalyse und psychotherapeutische Hilfe für ihre seelischen Probleme überhaupt gibt. Und auf der anderen Seite wäre auch unsere psychoanalytische Community ohne den "politischen Psychoanalytiker" Richter ärmer: Seine Bücher und Ideen haben unsere Sensibilität für die Bedeutung sozialer und politischer Probleme bei der Bewältigung unserer unbewussten Konflikte geschärft und deutlich gemacht, dass die Psychoanalyse nicht in einem gesellschaftsfreien Raum existiert.
Und zugleich ermutigt und motiviert sein konstruktives politisches Engagement viele Menschen außerhalb und innerhalb der Psychoanalyse ,eigene Initiativen zu ergreifen, um sich in die gesellschaftlichen Konflikte einzumischen.
Vollständiger Text unter:
Psychosozial-Verlag