Die Berliner Blätter veröffentlichen hier mit freundlicher Erlaubnis des Autors Dr.H.J.Köhlke :
Im Fazit einer jetzt vorliegenden repräsentativen Praxisstudie ist das Gutachterverfahren kaum noch zu rechtfertigen. Eine ausführliche Untersuchung, die vom Autor in Zusammenarbeit mit der Universität Hamburg (Psychologischen Institut III, Prof. Dr. Dahme) realisiert wurde, führt zu dem Schluß, daß weder eine ausreichende Zweckmäßigkeit noch eine angemessene Verhältnismäßigkeit gegeben sind, die den erheblichen Aufwand legitimieren könnten. Anlaß
der Untersuchung In der Kritik kam diese ungesicherte, spekulative Legitimationsgrundlage immer wieder zum Ausdruck. Seit Jahren geäußerte massive Zweifel von Praktikerseite galten als Einzelaussagen "Betroffener" und entsprechend als empirisch nicht fundiert. Sie wurden als bloße Behauptungen (z.B. "ein Antragsbericht dauert 3-4 Stunden") von Seiten der Gutachter mit Gegenbehauptungen ("solcher Bericht muß eigentlich in maximal einer halben Stunde abzufassen sein") neutralisiert (vgl. Vogel & Merod, 1998) und mit der Konnotation einer gewissen persönlichen Inkompetenz des jeweils kritischen Praktikers verknüpft (1). Dieser, z.T. auch als Kongreß-Nebenprogrammpunkt eingerichtete "Wortwechsel Betroffener" blieb ohne Wirkung. Ohnehin befindet sich das subjektive Meinungsspektrum zum Gutachterverfahren in einer asymmetrischen Schieflage: Während die Gutachter im Rahmen von offiziellen jährlichen "Gutachtertreffen" auf Einladung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ihre Erkenntnisse austauschen und deren Ergebnis Einfluß auf Bestimmungen und Bedingungen der alltäglichen Praxis hat, gibt es ein vergleichbares Forum und Einflußmöglichkeit der Psychotherapiepraktiker nicht. So existiert bis heute nicht einmal eine informelle Plattform, auf der Erkenntnisse der Psychotherapiepraxis zum Gutachterverfahren gesammelt, ausgewertet und verlautbart werden könnten. In dieser stagnativen Situation von interessegeleiteten Einzelaussagen, subjektiven Annahmen und gruppenspezifischen Spekulationen, die einerseits Extensions- (siehe neue Gutachterpflicht von KZT-Anträgen) andererseits Restriktionsforderungen begründen sollen, wurde vor allem eines deutlich: Es mangelte an einer geordneten Auseinandersetzung mit dieser äußerst praxisrelevanten Thematik. Daraus erwuchs dann der Plan, eine umfassende Untersuchung zum Gutachterverfahren zu entwickeln, die sowohl aus theoretischer als auch empirischer Sicht die vielen Facetten dieses Themas nicht nur plakativ benennen, sondern systematisch analysieren sollte. Die empirische Studie ist eingebettet in folgende grundsätzliche Fragen zum Gutachterverfahren:
Eine Zufallsstichprobe hauptberuflicher Vertragspsychotherapeuten der KV Bezirke Bayern und Nordrhein wurde mittels eines prägnanten, äußerst praxisbezogenen Fragebogens zu konkreten Verhaltensmustern, Erkenntnissen und Beurteilungen im Zusammenhang mit dem Gutachterverfahren befragt. Eine systematische Befragung
von Praktikern war insofern zielförderlich, als sie gleichzeitig
Verfasser des gutachterlich zentralen Antragsberichts, Empfänger der
Gutachter-Stellungnahmen und schließlich "Leistungserbringer"
der beantragten Psychotherapie sind. Damit haben sie eine prozeßhafte
Übersicht zu Theorie und Praxis des Gutachterverfahrens, wie sie
diesbezüglich keine andere Gruppe - auch die Gutachter nicht – hat. Der Rücklauf verteilt sich
optimal: 46 % Ärzte, 46 % Diplom-Psychologen und 8 % analytische
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. [ zum Anfang ]Brisanz der Untersuchung Die Untersuchung berührte
sehr "brisante" Aspekte der Routinepraxis von
Vertragspsychotherapeuten. Das Gutachterverfahren wirkt schließlich
nicht "neutral" auf das konkrete Praxisgeschehen, es wirkt
entweder konstruktiv oder obstruktiv. Aufgrund der erzwungenen
Arbeitsbelastung für den Praktiker und der Ausstattung der Gutachter
mit einer informellen Definitions- und formalen Sanktionsmacht stellt
das Gutachterverfahren eine relevante Praxisrahmenbedingung dar, auf die
sich die psychotherapeutische Praxis einstellt. So kann es im negativen
Fall zur Ausbildung eines inzidentellen Reaktions- und
Kompensationsmusters kommen (Vermeidungs-, Umgehungs-, eventuell sogar
straftatbestandliches Verhalten), das problematisch ist und das mit
Entziehung der KV-Zulassung, Haftungsproblemen wegen
lege-artis-Verstöße und sonstigen bedrohlichen Konsequenzen assoziiert
werden könnte. Themenbereiche der Untersuchung Eine systematische
Auseinandersetzung mit dem Gutachterverfahren schließt verschiedenste
Aspekte vertragspsychotherapeutischer Alltagspraxis, Versorgung mit
Kassenleistung sowie krankenversicherungsrechtlicher Rahmenbedingungen
(z.B. Psychotherapie-Richtlinien und Psychotherapie-Vereinbarungen) ein.
Die vielfältigen Themenbereiche dieser theoretischen und empirischen
Untersuchung können hier in diesem Rahmen nur grob aufgezeigt werden.
Die interessierten Leser seien diesbezüglich auf das jetzt erschiene
Buch im DGVT-Verlag verwiesen (2).
[ zum Anfang ]Ergebniszusammenfassung Die einzelnen Ergebnisse, insbesondere auch der Vergleich der Antworten je nach Therapiefachrichtungen (PA, aKJP, TP, VT), stellen die offizielle Legitimationsgrundlage des Gutachterverfahrens in einem Umfang in Frage, daß sie zu einer grundsätzlichen Neubesinnung anregen müßten. Nachfolgend soll darüber in Form einer übersichtartigen Zusammenfassung berichtet werden.
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"Das Gutachterverfahren erfaßt primär Formulierungsgeschick, nicht Therapiequalität " |
Mit dieser überwältigenden Mehrheit widersprechen sie damit der von Gutachtern gerne vertretenen Behauptung, von einem schlechten Antrag könne mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine schlechte Therapie geschlossen werden und umgekehrt. Vielmehr weisen sie dem Gutachterverfahren den Status zu, nicht viel mehr als äußere Darstellungsfertigkeiten prüfen zu können. Mit den wirklichen Therapieinhalten und dem dynamischen Prozeß von Effektivität (Qualitätsaspekt) und Effizienz (Wirtschaftlichkeitsaspekt) einer erfolgreichen Behandlung, hat das Gutachterverfahren kaum etwas zu tun. |
"In meinen Therapien wende ich auch andere Methoden an als im Antrag aufgeführt" |
Für die verhaltenstherapeutische Praxis etwa bedeutet das Abweichen von gutachterlich geprüften Plänen fortwährende Widersprüche, Schuldempfinden und Identitätskrisen. Das dahinterliegende Theorie-Praxis-Dilemma in der Verhaltenstherapie, das schon seit Jahren bis heute zu wissenschaftlichen Auseinandersetzungen führt, ist sicher nicht mit noch mehr "Qualitätsprüfung" und noch mehr Kontrolle zur Ausbildung "braver Therapiesoldaten" zu lösen. Verschiedentlich hat der Verfasser an die Forschung appelliert (vgl. Köhlke, 1992; 1993; 1997; 1998), diese vermuteten (und jetzt empirisch bestätigten) "Devianzen" nicht immer nur zu brandmarken, sondern sich endlich seriös wissenschaftlich mit der Frage auseinanderzusetzen: Warum weicht die verhaltenstherapeutische Praxis von den plausibel im gutachterlichen Antragsbericht zu vermittelnden und therapeutisch grundsätzlich ja auch gut umsetzbaren verhaltenstherapeutischen Standardverfahren (z.B. Angst-Konfrontationsverfahren) trotz aller Medienpräsenz ab. |
"Die Kommentare der Gutachter sind überwiegend hilfreich" |
Auch werden die speziellen Begründungen in Ablehnungsfällen ganz überwiegend als "nicht berechtigt" eingeschätzt, so daß das Gutachterverfahren nicht - wie von einigen Gutachtern beansprucht - als "interkollegiale Kommunikation" und schon gar nicht als eine "Art Supervision" verstanden werden kann. |
"Kommt es vor, daß Sie wegen des Antragsaufwands die Durchführung von Langzeittherapie vermeiden?" |
Dieser Abschreckungseffekt könnte bei der neuen Gutachterpflichtigkeit für Kurzzeittherapien (ab 01.01.2000) insofern eine Schutzwirkung entfalten, als damit der schnelle Zugriff auf KZT-Abrechnungsziffern erheblich reduziert werden könnte. Immerhin wird ein ganz erheblicher Umsatz und damit Verknappung des ohnehin schmalen Psychotherapiebudgets gerade von solchen (eher fachfremden) Arztgruppen verursacht, die nur nebenbei psychotherapeutische KZT-Leistungen erbringen und abrechnen. Für sie dürfte ein umständliches Gutachterverfahren die Attraktivität der KZT-Ziffern erheblich mindern.
Die Untersuchung hat
ergeben, daß das Gutachterverfahren weder zweckmäßig noch
verhältnismäßig ist und daß sein einziger Sinn sich auf eine
Sekundärwirkung beschränkt: "Abschreckungseffekt". Hierbei
geht es dann insbesondere um einen Schutz des ohnehin zu geringen
Psychotherapiebudgets gegenüber den bisher erheblichen Umsätzen
(gutachterfreier Kurzzeittherapien) seitens nebenberuflich
psychotherapeutisch tätiger Arztgruppen.
Es ist gut möglich, daß diese Untersuchung zu einer Neubelebung der Diskussion um Sinn und Zweck des Gutachterverfahrens führen wird. Nicht auszuschließen ist auch, daß sowohl Patienten als auch Psychotherapeuten aufgrund der neuen Datenlage die Rechtmäßigkeit des Gutachterverfahrens und z.B. hierauf gestützte Ablehnungsentscheidungen der Krankenkassen überprüfen werden:
(1) Apropos "subjektive Betroffenheit": Am Rande sei darauf aufmerksam gemacht, daß es hier, wenn schon, zwei Seiten von "Betroffenheit" gibt, die die Aussagen je nach Interessenslage färben können: Einerseits die permanente "Entreicherung" der Praktiker durch stetigen Berichtsabfluß, andererseits die permanente "Bereicherung" der Gutachter durch stetigen Honorarzufluß. Immerhin liegt das jährliche "Nebeneinkommen" allein aus Gutachtertätigkeit höher als das vergleichbare Jahreseinkommen aus Vertragspsychotherapie der Praktiker! Dementsprechend können positive Postulate der Gutachter zum Gutachterverfahren nicht mehr Objektivität beanspruchen als gegenteilige der Praktiker. Gerade auch wegen der pekuniären Attraktivität dieses Amtes und damit grundsätzlich möglicher Interessenskollisionen ist es fraglich, ob die Gutachter-Bestellung, die bisher im Prinzip autokratisch durch die KBV vorgenommen wird, nicht einem demokratisch legitimierten Gremium übertragen werden müßte. Erst recht sollte dies gelten für die Bestellung der Obergutachter als Beschwerdeinstanz. Hier wäre auch statt eines systemimmanenten Obergutachterverfahrens die Einrichtung eines neutralen "Schiedsverfahrens" denkbar. Ganz kompliziert, um nicht zu sagen ansatzweise skandalös, wird es nun aber, wie gerade jetzt bei der KBV-Neubestellung von Gutachtern geschehen, wenn führende Verbandsfunktionäre, die in entscheidenden Bundesausschüssen (Bundesausschuß, Arbeitsausschuß, Fachausschuß) ein Mandat innehaben, vom KBV auch noch als Gutachter bestellt werden – und diese "sich bestellen lassen". Sind hier nicht schwere Interessenskollisionen quasi hausgemacht, wenn es jetzt in den Ausschüssen im Rahmen der Qualitätssicherungsbeschlüsse um die Frage der Zukunft des Gutachterverfahrens gehen wird? [ zurück ] (2) Köhlke, H.- U
(1999). Das Gutachterverfahren in der Vertragspsychotherapie. Eine
Praxisstudie zu Zweckmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit.
Tübingen: DGVT-Verlag. Zu beziehen beim: DGVT-Verlag, Hechinger Str.
203, 72072 Tübingen, Tel.: 07071 – 792850, Fax: 07071 –
792851, e-mail: dgvt-verlag@dgvt.de
[
zurück ] (3) Köhlke, H.- U (1999). Rationalisierungsformulare zum Antrags- und Gutachterverfahren –Zur Vereinfachung des Berichtsaufwands. Materialie Nr. 42. Tübingen: DGVT-Verlag (Bezugsadresse siehe Anmerkung 2) [ zurück ] |