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Von: Zvi Lothane
[mailto:Zvi.Lothane@mssm.edu]

An: bbpp@bbpp.de (Gerd Boettcher)
Betreff: Schreber

Von: Lothane, Henry [mailto:henry.lothane@mssm.edu]
Gesendet: Montag, 6. Mai 2013 16:08
Betreff: 2 Beitrage

vielleicht wird es die Leser interessieren. Herzlich,

Henry Lothane, MD
Clinical Professor of Psychiatry
Mount Sinai School of Medicine
Office address: 1435 Lexington Avenue
New York, NY 10128
Phone: (212)534-5555
www.lothane.com

In dieser neuerlichen Durchsicht der Geschichte von Paul Schreber
korrigiert der Autor die noch immer bestehenden Fehlwahrnehmungen und Fehler
in der Darstellung, der Diagnose, der Dynamik  
und der ethischen Aspekte zu diesem berühmtesten Patienten
in der Geschichte der Psychiatrie und der Psychoanalyse.

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Ein weiterer Vortrag von Zvi Lothane (civilization)

 

Nachfolgend ein älterer Beitrag von Zvi Lothane:

Lieber Gerd,

die Veranstaltung:
Daniel Paul Schreber centenary - 200 years of Sonnenstein
The Modern Experience and the Performance of Paranoia International Conference, April 13-15, 2011, Sonnenstein-Pirna
13th April
Eröffnungsveranstaltung im Deutschen Hygiene-Museum, Dresden
18:00 – Begrüßung, Siegfried Reiprich, Geschäftsführer Stiftung Sächsische Gedenkstätten
18:30 - Die Erfahrung der Moderne und die Performanz der Paranoia 100 Jahre Daniel Paul Schreber -
Eine Einführung Prof. Dr. Zvi Lothane, New York
Prof. Dr. Friedrich Kittler, Berlin
Moderiert von Prof. Dr. José Brunner, Tel Aviv.

Anbei meine Eröffnungsrede.
Herzliche Grüsse, 

Henry (Zvi) Lothane, MD, DLFAPA
Clinical Professor Department of Psychiatry Mount Sinai School of Medicine
1435 Lexington Avenue New York, NY 10128(212) 534 5555
Schreber@lothane.com
www.lothane.com

 

Ein dreifaches Jubiläum
Zvi Lothane

"Und so glaube ich denn in der Annahme   nicht zu irren, daß mir schließlich auch noch eine ganz besondere Palme des Sieges winken wird ... daß an meinen Namen eine Berühmtheit sich anknüpfte, die Tausenden von Menschen von ungleich größerer geistiger Begabung nicht zu Theil geworden ist" (Paul Schreber).

Es bleibt der Zukunft überlassen, zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute gläubig finden (Freud).

Dem Heile künftiger Geschlechte (Moritz Schreber, Motto zur Kallipädie)

Wir sind heute versammelt, um ein doppeltes Jubiläum zu feiern: den  100. Todestag Schrebers und Hundert Jahre Freuds Aufsatz über  Schrebers Denkwürdigkeiten. Und noch dazu: wir blicken zurück auf 200 Jahre seit der Ernennung von Johann Christian August Heinroth zum Professor für psychische Therapie an der Leipziger Universität und der Eröffnung der Heilanstalt Sonnenstein; und wir bemerken auch den 200. Geburtstag von Schrebers Vater Moritz, ein Jubiläum, das bisher nicht gefeiert wurde, also ein ganz  mehrfaches Jubiläum.

In einem Brief an C. G. Jung begeisterte sich Freud über “den wunderbaren Schreber, den man zum Professor der Psychiatrie und Anstaltsdirektor hätte machen sollen”, was zur “Analyse unseres lieben geistreichen Freundes Schreber” führte. Jung hat Freuds Begeisterung völlig geteilt: "Es hat mir wirklich Rührung und Freude verursacht, daß Sie die Größe des Schreberschen Geistes und die erlösenden hieroi logoi der Grundsprache voll zu würdigen wissen . [...] Es ist ein würdiges Buch, das schon um des 'kleinen Flechsig' willen den Ehrenplatz in jeder psychiatrischen Bibliothek verdient“.

Schrebers Buch ist in der Tat wunderbar und ganz modern: ein kreatives, kunstvolles Gebilde, eine philosophische Abhandlung, eine Ideenquelle für Psychiater, Psychoanalytiker, Philosophen und Schriftsteller, alles zugleich. Nie zuvor war einem ehemaligen Anstaltsinsassen so viel Ehre zuteil geworden wie Schreber, der von nun an für Generationen als Prototyp eines Paranoikers galt, wenn nicht gar eines Schizophrenen, der er allerdings nicht war. Mehr noch, der Professor ehrenhalber Schreber war nicht nur Augenzeuge und Geschichtsschreiber der deutschen Psychiatrie zur Zeit der Jahrhundertwende, er war auch deren Kritiker in Sachen Behandlung und Moral.

Paul Schrebers Lebensdrama

Paul wurde 1842 geboren, das drittes Kind des angesehenen Arztes Dr. Moritz Schreber (1808-1861), Wissenschaftler, ärztlicher Pädagoge, und Vorkämpfer der modernen Reha-Medizin, und Mutter Pauline (1815-1907), die reiche Tochter eines Professorenhauses. Dem erstgeborenen Gustav (1839-1877) folgte Schwester Anna (1840-1944), die Urahnin aller Nachfahren, und nach Paul noch zwei Schwestern, 1846 und 1848 geboren. Paul Schreber lebte, liebte und litt zumeist in seiner Geburtstadt Leipzig und in Dresden, und verbrachte 13 seiner 69 Jahre in Irren¬anstalten Sachsens, davon 8 gegen seinen erklärten Willen. Er erlitt drei depressive Schübe: mäßig 1884-5, massiv 1893-1897, tödlich 1907-1911. Der Vater litt auch an Depressionen und starb als Paul 19 Jahre alt war. Die Mutter Pauline, eine Matriarchin von überragender Kraft, hat ihren Paul  stark beinflusst. Es gibt keine Dokumente über die Beziehungen zwischen Paul, seinen Eltern, und seinen Geschwistern. Die zwei Quellen sind die Interessanten Berichte der Töch¬ter Dr. Schrebers über ihren Vater (in der Zeit¬schrift Freund der Schreber-Vereine, 1909), die ein »Kinderparadies« im Haushalt schilderten, und ein langes Gedicht von Paul zum 90. Geburtstag Paulines 1905 enthalten.  In der Wahl von Jura in Studium und Beruf, identifizierte sich Paul mit dem väterlichen Grossvater, nicht mit dem Vater. 1867 trat Paul in den Staatsdienst beim Justizministerium ein und 1869 erlangte er den Titel »Dr. iur.« Die zweite schicksalhafte Wahl war die 1878 Ehe, nicht standesgemäss laut der Familie, mit Sabine Behr (1857-1912), Tochter eines Opernintendanten und Sängers, neun Monate nach dem Selbst¬mord Bruder Gustavs. Es muss eine schwere Zeit gewesen sein, denn »soll der Kranke soll schon z. Z. seiner Heirat hypochondrische Ideen geäußert haben.« Es war immer eine abhängige Liebe die Paul für Sabine hegte. Über seine Sexualität schrieb Paul: »Es wird wenig Menschen geben, die in so strengen sittlichen Grundsätzen aufgewachsen sind, wie ich, und die sich ihr ganzes Leben hindurch, namentlich auch in geschlechtlicher Beziehung, eine diesen Grundsät¬zen entsprechende Zurückhaltung in dem Maße auferlegt haben, wie ich es von mir behaupten darf.« Die Ehe war durch Streit gezeichnet und gar mit Pauls Scheidungsdrohungen verbunden. Franz Baumeyer merkte Sabines »etwas primitive, beihnahe kindliche Schrift; Ihr Verhalten gegenüber ihrem geisteskrank gewordenen Mann ist weitgehend von einer hilflosen Angst getönt. In zahlreichen Briefen erkundigt sie sich nach seinem Befinden, verschiebt aber angekündigte Besuche mehrfach unter dem Hinweis auf äußere Gründe.“  Eine merkwürdige Lücke: es gibt keine Dokumente über Kontakte mit Bekannten und Freunden, was den Eindruck eines ganz einsamen Mannes liefert.

1884 in mitten seiner friedlichen aber wening heldenhaften Existenz entschied sich Paul auf der Liste der Nationalliberalen Partei zur Wahl für den Reichstag aufstellen zu lassen und erlitt eine bedrückende Niederlage, die er nie wörtlich zugestanden hat. Verlieren, Niederlage, Irrtum sind für die deutsche Einzel- und Volksseele kein leichtes Bekenntnis. Bei Paul heisst es nur: „Ich bin zweimal nervenkrank gewesen, beide Male in Folge von geistiger Ueberanstrengung; das erste Mal (als Landgerichtsdirektor in Chemnitz) aus Anlaß einer Reichstagskandidatur“. Darauf folgte die erste Depression und die erste Aufnahme bei Prof. Paul Flechsig. Paul schrieb dazu: „Nach der Genesung von meiner ersten Krankheit habe ich acht, im Ganzen recht glückliche, auch an äußeren Ehren reiche und nur durch die mehrmalige Vereitelung der Hoffnung auf Kindersegen getrübte Jahre mit meiner Frau verlebt.“ Die zuckerkranke Sabine erlitt vier Fehlgeburten und 1888 und 1892 gebahr sie zwei tote Kinder, das letzte ein Knabe.

Das „zweite Mal  [geschah] aus Anlaß der ungewöhnlichen Arbeitslast, die ich beim Antritt des mir neuübertragenen Amtes eines Senatspräsidenten beim Oberlandesgericht Dresden vorfand.“ Den Auftakt beschrieb Paul wie folgend: „In Juni 1893 wurde mir die Nachricht von meiner bevorstehenden Ernennung zum Senatspräsident beim Oberlandesgericht Dresden zu Theil. In diese Zeit träumte mir einige Male, daß meine frühere Nervenkrankheit wieder zurückgekehrt sei. Ferner hatte ich einmal gegen Morgen noch im Bette liegend (ob noch halb schlafend oder schon wachend weiß ich nicht mehr) eine Empfindung, die mich beim späteren Nachdenken in vollständig wachem Zustande höchst sonderbar berührte. Es war die Vorstellung, daß es doch eigentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege. — Diese Vorstellung war meiner ganzen Sinnesart so fremd; ich würde sie bei vollem Bewußtsein mit Entrüstung zurückgewiesen haben.“  Dieser Traum war kein Zeichen eines homosexuellen Impulses sondern eine Identitäts-Suche, einer Identifizierung mit der Gestalt von Frau und Mutter. Es folgten andere derartige Fantasien: „Ich habe (und zwar zu der Zeit, als ich noch in der Flechsig’schen Anstalt war) zu zwei verschiedenen Malen bereits einen wenn auch etwas mangelhaft entwickelten weiblichen Geschlechtsteil gehabt und in meinem Leibe hüpfende Bewegungen, wie sie den ersten Lebensregungen des menschlichen Embryo entsprechen, empfunden: durch göttliches Wunder waren dem männlichen Samen entsprechende Gottesnerven in meinen Leib geworfen worden: es hatte also eine Befruchtung stattgefunden“. Diese fantastische Frauwerdung war eine Wünscherfüllung, nämlich Nachkommenschaft zu kriegen und seiner Frau Mitleid auszusprechen.

Die obengenannte Phantasien waren Begleiterscheinungen einer tiefgreifenden existentiellen Krise, eines dramatischen, inneren Konflikts: er war nicht imstande weiter im Beruf und in der Ehe zu leisten, er hatte zu viele Gewissensbissen um sich entscheidend von der Arbeit zu distanzieren, sich von Sabine zu scheiden und eine gesunde und fortpflanzungsfähige Frau zu heiraten. Es bestand auch ein äusserer Konflikt zwischen Schreber und Gegenspielern, die entgegen ihn handelten: Sabine, sein Chef im Oberlandesgericht, seine Ärzte Paul Flechsig und später Guido Weber. Schreber war nicht imstande dieses Entscheidungs-Dilemma aufzulösen was zur Triebfeder des ganzen Dramas wurde.

Dieser Zustand seelischer Zerissenheit machte ihn ruhelos und trübte sein Schlaf:

Methought I heard a voice cry "Sleep no more!
Macbeth does murder sleep," the innocent sleep,
Sleep that knits up the ravell'd sleave of care,
The death of each day's life, sore labour's bath,
Balm of hurt minds, great nature's second course,
Chief nourisher in life's feast.

Schlaflosigkeit ist Zeichen der Depression, nicht Schizophrenie.

          Ab Februar 1894 und fortan verschlimmerten sich Pauls Beziehungen zu Flechsig und zu seiner Frau. Etwa im März oder April hat Flechsig beschlossen dass Schreber nicht mehr heilbar war und dass laut den Statuten der Anstalt der erlaubte Aufenthalt von sechs Monaten seinem Ende entgegenging. Schreber konnte entweder nach Haus oder in eine andere Anstalt gehen. Waren seine Mutter oder Sabine bereit Paul zu Hause zu pflegen? Zudem verkomplizierte sich die Situation zwischen den Eheleuten durch Geldstreitigkeiten, in welche auch das Justizmi¬nisterium verwickelt war. Oberlanlandesgerichts Direktor Werner riet der „Frau Dr. Schreber , den Antrag auf Einleitung der Zustandvormundschaft anheimzugeben.“  So konnte der vom Gericht eingesetzte Vormund zusammen mit Sabine das Vermögen Schrebers fortan kontrollieren. Die Krisis mit Flechsig kam zum Ausdruck in dem berühmten Seelenmord, in dem gegen ihn „gerichteten Komplott (etwa im März oder April 1894), welches dahinging, nach einmal erkannter oder angenommener Unheilbarkeit meiner Nervenkrankheit mich einem Menschen in der Weise auszuliefern, daß meine Seele demselben überlassen.“ Die Überlassung, ein Abbruch des Vertrags Arz-Patient und die Auslieferung nach Sonnenstein, bildeten den eingentlichen  Seelenmord, als eine „Unstatthaftigkeit“ durch Schreber bezeichnet. Seelenmord war kein wahnhafter Neologismus sondern ein alter Sprachgebrauch in der deutschen und englischen Sprachen und ein juristischer Begriff den Anselm Feuerbach im Zusammenhang mit Kaspar Hausers Einkerkerung benutzt hatte.

Die Überweisung nach Sonnenstein war höchst traumatisch. Paul machte einen vergeblichen Fluchtversuch, erlebte einen „kurzen Ohnmachtsanfall,“ und war in einem langen psychotischen Angst- Depression- und Wutzustand versunken die er als metaphorische Wunder, eigentlich Wunden bzw. Traumen, im l1. Kapitel der Denkwüdigkeiten beschrieb: „Eines der abscheulichsten Wunder war das sogenannte Engbrüstigkeitswunder, daß ich minde¬stens einige Dutzend Male erlebt habe; es wurde dabei der ganze Brustkasten zusammengepreßt, so daß der Zustand der durch Athemnoth verursachten Beklem¬mung sich dem gesammten Körper mittheilte.“  Es waren „Traum- und Wahnvorstellungen wirklich nichts Anderes seien als die gleichfalls organisch bedingten, sinnbildlichen Darstellungen eben jener Stimmungen und Sensationen«, wie der Psychiker Dr. A. Krauss es definierte.

Hinsichtlich dieser Vokabel, Engbrüstigkeit, die noch heute als Synonym für Atemnot dient: der deutsch-jüdische Psychoanalytiker Niederland hat dieses Wort beim Sohn grob misverstanden und mit Nutzen von Geräten beim Vater falsch beschrieben und verbunden: „Der Vater erfand in seiner zwanghaften Besessenheit von Körperhaltung der Kinder eine Reihe von orthopädischen Apparaturen, den sogenannten Geradhalter, ... die zugleich am Brustkorb des Kindes und an dem Tisch befestigt wurde, ... das im „Engbrüstigkeits“-Wunder erhaltene Stück historischer Wahrheit darstellt“. Der Geradhalter, eine horizontale eiserne Stange, war keineswegs am Brustkorb befestigt und Paul hat es keineswegs im Sinne gehabt wenn er das Gefühl der Beklemmung bildlich darstellte. Niederland hat Tatsachen tendenziös geändert und eine Metapher konkretisiert, also versteinert. In der schwarzen Pädagogik à la Schatzman wurden die Apparaturen zu Maschinen, zu Folter-Maschinen.
Schreber erholte sich allmählich und war Anfang 1897 fähig die Anstalt zu verlassen. In Anbetracht Webers Diagnose der Unheilbarkeit, der Entmündigung, wobei Schreber in rechtlicher Beziehung einem Kinde unter sieben Jahren gleichgestellt wurde, und der Ratlosigkeit seiner Frau, war er auch noch 5 Jahren von Freiheitsberaubung ausgesetzt. Webers psychiatrisches Vorurteil war überdies mit Geldinteresse vermengt: der Aufenthalt kostete 2.100 Mark pro Jahr, ein Drittel von Schrebers Pension, gutes Einkommen für die Anstalt. Die Richter haben Schreber freigesprochen: „Denn dem Kläger ist auch darin recht zu geben, daß die Rücksicht, auf das Wohlbehagen dritter Personen, und wären es selbst die nächsten Familienangehörigen, hierbei nicht in Anschlag kommen darf. Die Entmündigung hat in erster Linie für das Wohl des zu Entmündigenden zu sorgen. Sie lediglich im Interesse anderer zu verfügen ist unstatthaft.“
         
Anstaltdirektor Guido Weber hatte kein Verständnis für die psychologischen Formulierungen von A. Krauss der Freuds Methode in der Traumdeutung vorwegnahm. Für Weber waren die Wunder Zeichen einer chronischen Form des Wahnsinns die „als Paranoia zu bezeichnen ist wo charakteristisch Wahnideen auftreten, sich bald fixieren und zu einem dauernden, uncorrigierten und unerschütterlichen Wahnsystem verarbeitet werden, also Verfolgungsideen und Überschätzungsideen die sich combinieren.“  Diese Wahnideen brauchte man gar nicht korrigieren, sondern verstehen, also im Sinne Freuds analysieren! Webers war die parteiische, materialistisch-organische, statische Gesinnung eines forensischen Sachverständigen, Nestor der forensischen Psychiatrie Sachsens,  Gründungsmitglied der Forensich-Psychiatrischen Vereinigung zu Dresden. Mit Recht betonte Schreber: „An und für sich steht hier Behauptung gegen Behauptung“. 

Im Kräftespiel zwischen Patient und Psychiater war die Paranoia-Diagnose zu einer politischen Waffe geworden. In sofern Schreber ein System, einen vermutlichen Irrsinn hatte, in sofern hatte Weber ein spiegelbildliches System der auf einen Irrtum beruhte, indem er Halluzinationen und Paranoia als organische Wahrnehmungsstörung und nicht als Fantasie ansah. Wie auch immer, warum sollte dies eine Angelegenheit für den Staatsanwalt sein? Darüber hinaus findet man in Webers Gutachten kein Krümelchen an biographischer Anamnese, so dass die Ergebnisse der psychiatrischen Untersuchung erzielt wurden, als ob es sich um eine neurologische Anamnese und Untersuchung gehandelt hätte. Aus gutem Grund kann Schreber daher schreiben: “Vor jener Zeit (d. h. etwa vor Ostern 1900) hat der Herr Sachverständige, ich möchte sagen, nur die pathologische Hülle kennengelernt, die mein wahres Geistesleben verdeckte.“ Es ist kein Wunder daß  Weber sich in seiner Funktion als Gerichtsarzt als Vertreter der Staatsmacht erwies und kein Fürsprecher seines Patienten gegenüber dem Staat war. Vor ihm hatte Flechsig schon dasselbe getan. Ein Gerichtspsychiater ist genauso wie ein Gerichtsmediziner nicht am Täter interessiert, sondern nur an der Tat, dem begangenen Verbrechen, an der Feststellung des Abnormen und der zu stellenden Diagnose. Tatsache ist, dass der Universitäts- und der Anstaltspsychiater  gleichermaßen ihr Fachwissen in den Dienst des Staates und nicht des Einzelmenschen stellten, ohne jedes Gefühl für dessen Interessen. Die Loyalitäten eines Privatpsychiaters sind da ganz anders, er interessiert sich für den ganzen Menschen, für das Individuum, er sieht im weitesten Sinne das Ganze der sittlichen und geistigen Persönlichkeit, deren Drama und Geschichte, deren bewußtes und unbewußtes Seelenleben, das Wohlbefinden dieses Menschen. Darüber hinaus, war zur Zeiten Webers die erste, echte deutsche dynamisch-psychologische Psychiatrie der Psychiker der ersten Hälfte des 19ten Jahrunderts, wie Heinroth, A. Krauss und Blumröder, längst verschwunden. Die zweite, erstarrte, seelenlose Psychiatrie lebt in der Jaspers’schen Phänomenologie fort. 
         
Aber man kann auch ein bischen Gefühl und Verständnis für Weber haben. Als Schreber ab 1895 besser ging, war er “immer noch erregt. Doch läßt er sich zu Unterredungen über gleichgültige Dinge herbei. Spielt Klavier, Schach und liest wieder. Über seine Wahnvorstellungen ist nichts zu erfahren. Schreit oft nachts laut u. brüllend zum Fenster hinaus immer dieselben Schimpfworte oder «ich bin der Senatspräsident Schreber,“ wie es in der Krankenkarte steht. Das beschrieb Weber wie folgend: “Die Reaktion gegen die Halluzinationen wurde immer geräuschvoller und intensiver,  er haranguirte eine Zeit lang den «Seelenmörder» Flechsig, wiederholte endlos «kleiner Flechsig», oder schrie zwar auch nachts […] mit solcher Kraftanstrengung hinaus, dass die Leute in der Stadt sich ansammelten und über die Störung laut wurden.“ Weber, der im Anstaltsgelände wohnte, muß das laute Schreien ebenfalls gehört haben. Es kam Weber nicht in den Sinn, dass Schreber brüllte wie ein Tiger im Käfig, der „in fast gefänglicher Absperrung lebte, namentlich vom Umgang mit gebildeten Menschen, selbst von der (den sog. Pensionären der Anstalt zugänglichen) Familientafel des Anstaltsvorstands ausgeschlossen war, niemals aus den Mauern der Anstalt herauskam usw.“, ohne Psychotherapie, nie ernst genommen, und ohne Möglichkeit für Geschlechtsverkehr mit seiner Frau.
         
Erstaunlicherweise hatte der sprichwörtliche Paranoiker mehr Einfühlung für seine Ärzte als diese für ihn, wie es Schreber erzählt:
eine Zeit lang (wohl im Frühjahr oder Herbst 1895) habe ich die Füße oft während der Nacht bei offenem Fenster durch die Gitter des letzteren herausgesteckt, um sie dem kalten Regen auszusetzen; solange ich das that, konnten die Strahlen den Kopf nicht erreichen und befand ich mich daher vollkommen wohl. Dieses mein Verhalten irgendwie zu Ohren der Ärzte gekommen und dadurch Veranlassung zu einer Maßregel geworden ist:  , die meinen Unwillen im höchsten Grade erregte:  an dem Fenster meines Schlafzimmers hatte man schwere hölzerne Läden anbringen lassen, die während der Nacht verschlossen wurden, sodaß nunmehr vollständige Finsterniß in meinem Schlafzimmer herrschte und auch am Morgen die eintretende Tageshelle so gut wie keinen Einlaß fand. Natürlich werden die Ärzte keine Ahnung davon gehabt haben, wie empfindlich mich diese Maßregel in meiner ohnedies so maßlos schwierigen Selbstvertheidigung gegen die auf Zerstörung meines Verstandes gerichteten Absichten traf. Auf der anderen Seite wird man begreiflich finden, daß sich meiner eine tiefe Verbitterung bemächtigte, die auf lange Zeit hinaus vorgehalten hat. Ich habe aber geglaubt, den Vorgang mit den Fensterläden ausführlicher besprechen zu sollen, um das tiefe Mißtrauen verständlich zu machen, das mich den Ärzten gegenüber jahrelang beherrscht hat und von dem dieselben vielleicht auch in meinem Verhalten manche Anzeichen gefunden haben werden. Die erwähnten Fensterläden (die einzigen auf dem von mir bewohnten Flügel der Anstalt) sind jetzt noch vorhanden, werden aber schon seit langer Zeit nicht mehr verschlossen. Sonst finden sich dergleichen Fensterläden nur in den für Tobsüchtige eingerichteten Zellen im Erdgeschosse und im ersten Stockwerke des Rundflügels der Anstalt. In verschiedenen dieser Zellen habe ich während zweier Jahre (1896 - 98) geschlafen, wobei die durch die Verfinsterung erzeugten Übelstände für mich womöglich noch schlimmer hervortraten.

So argumentiert  kein Paranoiker, obwohl Schreber dem Despotismus der totalen Insitution unterlag. Warum hat sich Schreber als Verfolgter empfunden? Eben weil er kein Paranoiker war. Letzten Endes war Schreber der Sieger, ein Sigfried, dessen Leitmotiv aus Wagners Oper über den Eingang an 15a Angelikastrasse in Dresden gemeisselt ist, wo Schreber nach der Entlassung aus Sonnenstein mit seiner Frau und Adoptivtochter Fridoline, die er mit Liebe erzog, 5 gute Jahre verbrachte. 1906 erschien in Deutsches Wochenschach und Berliner Schachzeitung Schrebers Artikel „Über Urheberrecht an Turnpartien.“ 1907, nach dem Tode der Mutter und dem Schlaganfall der Frau, kam der letzte Schub und vier Jahre später Tod durch ärztliche Fahrlässigkeit verursacht.
         
Noch bei Flechsig spielte Paul für Sabine die Arie aus Händels Messias "Ich weiß, daß mein Erlöser lebt", Diese Hiobs-Rede ist eine doppelte Anspielung an den Prolog im Himmel im Buch Hiob und Goethes Faust. Gleich Satan, hat Mephisto-Flechsig Gott entführt um Schreber mit grässlichen Wunder zu martern. Auf diese Weise hat Schreber sein Alltagsdrama in ein Heldendrama umgestaltet.

Freud über Schreber

Dank meinem Meister Freud sind Paul und Moritz Schreber unsterblich geworden. Ende 1899 erscheint Freuds Hauptwerk, DieTraumdeutung, vordatiert auf 1900, um das moderne Jahrhundert anzukündigen, in welchem der Kern der psychoanalytischen Methode als Verstehen, Forschen und Heilen vorliegt,  die vollkommene Gleichsetzung von Traum, Neurose, und Psychose: „Was nun eigentlich die Untat Flechsigs und welches seine Motive dabei waren, das wird als eine besonders intensive Wahnbildungsarbeit angesehen werden dürfen, wenn es gestattet ist die Paranoia nach dem Vorbild des um so viel besser bekannten Traumes zu beurteiteilen“, also Wahnbildungsarbeit gleich wie Traumbildungsarbeit, Wahndeutung gleich Traumdeutung. Freud blieb aber seiner Traum Methode nicht treu und zwar aus zwei Gründen. Erstens, er verkomplizierte Traum mit Trieb, mit Sexualtrieb, eine Verringerung; zweitens, in seiner Theorie der Psychopathologie griff er nach einer Verallgemeinerung und hoffte daß es ihm  „gelingt, gerade den Kern der Wahnbildung mit einiger Sicherheit auf seine Herkunft aus bekannten menschlichen Motiven zurückzuführen“. Aber kein Knecht kann zwei Herren dienen: man kann entweder eine Fantasie bzw. Wahnidee wie einen Traum individuell und historisch, mit den Einfällen des Analysanden, interpretieren; oder dieselbe unter einer Verallgemeinerungs-Formel schablonenartig subsumieren. Und da liegt der Hund begraben: Freud versuchte Schrebers Idee dass „Flechsig [...] an dem Kranken einen ‚Seelenmord’ begangen [hat] durch eine einfache Formel aufzulösen, [und damit] alle Fäden des Komplotts“ zu erraten. Als Schreber sich an seine frühere Krankheit erinnerte, so Freud, erlebte er  die „Sehnsucht, ich möchte Flechsig wieder einmal sehen, die eine  Verstärkung zur Höhe einer erotischen Zuneigung gewann und der Kranke einen sexuellen Misbrauch von seiten des Arztes fürchtete. Ein Vorstoss homosexueller Libido war also die Veranlassung dieser Erkrankung... und das Sträuben gegen diese libidinöse Regung erzeugte den Konflikt, aus dem die Krankheitserscheinungen entsprangen.“ Falsche Beschreibung macht falsche Deutung. Diese reduktive Freudsche Deutung, das Reduzieren von Liebe als agape auf Sexus, ist weit hergeholt und haltlos, er hat Schrebers Frauenwerdung-Fantasie als homosexuelle Begierde umgeschrieben und umgedeutet, Entmannung als Kastration verringert und damit den metaphorischen Sinn der Schreberschen Entmannung verpaßt. Konflikt stimmt, aber zwischen einer weiblichen und männlichen Identität, die C. G. Jung in der Typologie von Anima  und Animus übernahm. Die Freudsche Umdeutung ist Freuds Wahn, Freuds Projektion, und in der Tat, Schrebers Wahn enthält die Wahrheit über Flechsig, und ich bin nun Freuds Zukunft, die das klargestellt hat, geworden. Schreber war weder ein offensitchtlicher Paranoiker noch ein verborgener Homosexueller, diese ganze Konstruktion stürtzt wie ein Kartenhaus ein, oder, wie Freud selber Kant zitierte, ist Freud „in die lächerliche Rolle geraten, als des Mannes, der das Sieb unterhält, während ein anderer den Bock melkt.“

Freud hat seine eigenen Zweifel bezüglich seines Schreber-Artikels zum Ausdruck gebracht:  An C. G. Jung schrieb er: “Der Schreber ist formell unausgebildet, wirklich nur flüchtig hingemacht aber er enthält einige schöne Momente. Im Gegensatz zu früheren Arbeiten bin ich diesmal über die innere Güte ganz urteillos, dank der dabei vorgefallene Bekämpfung innerer Komplexe (Fließ)“, also eigener Homosexualität. An S. Ferenczi schrieb Freud: "Der Schreber ist  saure Arbeit. Hohngelächter oder Unsterblichkeit or both“; und wiederholt an Binswanger: “Es wird ein kühner Vorstoß ins Herz der feindlichen Stellung in der Paranoiafrage werden”. Das mag wohl sein, aber Freud hat doch die falsche Paranoia-Diagnose gebilligt und Schrebers ganze Lebensgeschichte verkannt.
Gruppen- und Massenparanoia

Bislang haben wir uns nur mit der Paranoia des Einzelnen beschäftigt. Nietzsche lehrt: „Der Irrsinn ist bei einzelnen etwas seltenes, - aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.“ Paranoisch heisst feindlich, misstrauisch, überheblich gegen Andere denken und handeln, und damit Verantwortung für das Denken oder die Handlung zu leugnen: da sieht Schrebers vorübergehende Paranoia gegen Webers institutionelle Paranoia. Paranoisch waren Gruppen, z. B. die Kreuzfahrer gegen deutschen Juden während des Schwarzen Todes, Parteien, wie die Antisemiten-Fraktion im Reichstag zur Zeiten Schrebers, Völker wie Türken gegen Armenier, und und Verfolgungsmaßnahmen gegen eine Bevölkerung durch den grausamsten Diktatoren des 20. Jahrhunderts, Stalin and Hitler, inspiriert. Bei Einzel-Paranoia leidet ein Mensch der sich verfolgt fühlt durch reale und gedachte Feinde weil er Liebe sucht. Bei Gruppen-Paranoia leiden unzählige Menschen wenn sie aktiv verfolgt sind weil die Gruppe oder ihr Führer Macht suchen, sodass Paranoia Politik wird, eine Real-Politik dazu.

Das kommt besonders klar bei Militarismus und Hurra-Patriotismus. Gruppen-Paranoia war zu erkennen in der englischen Form des letzteren, Jingoismus, im Amerikanischen Spread-Eagleismus, in der Aussen- und Kriegspolitik des letzten Kaisers. Und damals so gut wie heute ist die Gruppen-Paranoia mit der Lüge eng verbunden, wie uns Nietzsche lehrt: „Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt - und was er auch hat, gestohlen hat er's.“ Unser President Bush hat gelogen über Saddams weapons of mass destruction, eigentlich weapons of mass deception. Dagegen, mit President Clinton: „when Clinton lied, nobody died“. Paranoisch war die Oberste Heeresleitung welche die Dolchstosslegende, bzw. die Dolchstosslüge, eine Komplott-Theorie, schuf: das Heer ist „im Felde unbesiegt“  geblieben aber die Niederlage des Deutschen Reiches ist erst durch einen „Dolchstoß von hinten“ verursacht, durch innere („heimatlose Zivilisten, Saboteure und Defätisten,“ Sozial-Demokraten). Damit wurde auch die deutsche Kriegsveratwortung verleugnet. Die Nationalsozialisten haben die Dolchstosslüge fortgesetzt und die demokratischen Weimarer Politiker und das Internationale Judentum beschuldigt. Und so kam es zur Ermordung von Matthias Erzberger und Walther Rathenau.
Paranoisch war auch Hitler, Führer und Verführer des deutschen Volkes vor und nach der Machtergreifung.

Folgt eine Zitate aus Mein Kampf:
Der Jude „ist und bleibt der ewige Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. Die Wirkung seines Daseins aber gleicht ebenfalls der von Schmarotzern: wo er auftritt, stirbt das Wirtsvolk nach kürzerer oder längerer Zeit ab. Wohl hängt er seine Frauen manchmal einflußreichen Christen an, allein, er erhält seinen männlichen Stamm grundsätzlich immer rein. Er vergiftet das Blut der anderen, wahrt aber sein eigenes. Der Jude heiratet fast nie eine Christin, sondern der Christ die Jüdin. Die Bastarde aber schlagen dennoch nach der jüdischen Seite aus. Besonders ein Teil des höheren Adels verkommt vollständig. Der Jude weiß das ganz genau und betreibt deshalb diese Art der „Entwaffnung“ der geistigen Führerschicht seiner rassischen Gegner planmäßig. Zur Maskierung des Treibens und zur Einschläferung seiner Opfer jedoch redet er immer mehr von der Gleichheit aller Menschen, ohne Rücksicht auf Rasse und Farbe. Die Dummen beginnen es ihm zu glauben.“

Und aus Adolf Hitlers Reichstags Rede am 30. Januar 1939:
„Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“
         
1960 versuchte Elias Canetti in Masse und Macht  Hitlers angebliche Paranoia  mit Paul Schrebers “Paranoia” gleichzusetzen, eine Verleumdung,  wobei die Komplexität des Nazismus auf eine psychiatrische Banalität reduziert wird. Der amerikanische Psychiater Morton Schatzman, Nachahmer Niederlands und Verfasser des Reissers Die Angst vor dem Vater, zitierte Canetti:

„Wir werden bei Schreber ein politisches System von beunruhigender Vertrautheit finden. Es wurde in etwas roherer und weniger ‚gebildeter’ Fassung zum Credo eines grossen Volkes. Schrebers Ansprüche sind damit von seinen Jüngern nachträglich anerkannt worden“

tja, ehrlich, jeder Schuljunge trug ein Exemplar der Denkwürdikgeiten in seinem Tornister und Adolf Hitler hat diese auch gelesen.  Canetti verriet allerdings nicht daß er diese Idee von Freuds Bewunderer Arnold Zweig plagieirte. In seinem 1933 Buch Bilanz der deutschen Judenheit, wies Zweig Parallelen zwischen der “paranoiden” antisemitischen und nationalistischen “Massenpsychologie” der Nazis und dem „Zeugnis der wahrhaft genialen Selbstbeschreibung des  geisteskranken, entmündigten und ungewöhnlich scharfsinningen Dresdener Senatspräsident Dr. Schreber“ auf. Zweig verglich Hitlers Mein Kampf, »diese Mischung von besessener Propaganda, abgestandenen Brocken einer kümmerlichen Autodidaktenbildung, schlagartig falschen Bildern«, »die unheimliche Geschwätzigkeit, den affektge¬drängten Vortrag und von Gedankenflucht ausgehende Schachtelsätze« mit dem »unheimliche[n] Durch- und Nebeneinander von Wahn und geistiger Schlag¬kraft« im Werk Schrebers. Mit dieser Logik meinte A. Zweig, »den maßlosen Uniformtrieb des Deutschnationalismus« und die »völkischen Agitatoren und Gläubigen« durch Vergleiche mit Schreber erklären zu können.

Moritz Schreber wurde gleichermassen verunglimpft. Laut Schatzman, sind „Dr. Schrebers Ansichten ein Vorspiel der Ideologie der Nazis, die 80 Jahre später Menschen aus Gründen der ‚Rassenhygiene’  oder ‚gesundheit’ töteten. Hitler und seinesgleichen wuchsen in einer Zeit auf, als Dr. Schreber Sr. den Familientotalitarismus prädigte“, sodass die „mikro-soziale Despotie der Familie Schreber“ den Weg zur „makro-sozialer Despotie des Nazi-Deutschlands“ ebnete. Unsinn! Die Auflagen Schrebers Bücher waren ganz bescheiden und enthielten keine ähnliche Ideologie. Hitler und seine Zeitgenossen wurden nicht mit seinen Bücher erzogen. Der Hitler-Jugend Nachwuchs unterlag der NS-Ideologie von Hitler, Baldur von Schirach, Goebbels und Dr. Johanna Haarer. Mehr über letztere werde ich morgen erzählen.

Seelenmord und Vernichtungsparanoia:  Holocaust als Mord und Seelenmord

Paul Schreber warnte die Psychiatrie „vor unwissenschaftlicher Generalisierung und vorschneller Aburtheilung [um nicht] mit beiden Füßen in das Lager des nackten Materialismus [zu] treten“ (S. 80). Ihren Höhepunkt erreichte der materialistische Organizismus der deutschen Psychiatrie mit der 1920 Schrift von Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens Ihr Maß und ihre Form von Professoren Dr. jur. et phil. Karl Binding und Dr. med. Alfred Hoche. Der Jurist verband die „Tötung von Nebenmenschen“ mit der rechtmäßigen Euthanasie und betrachtete die Freigabe der Tötung der „zufolge Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen,“ beifügend die Bewusstlosen, Idioten und unheilbaren Geisteskranken, als „Pflicht gesetzlichen Mitleids. Das Gute und das Vernünftige müssen geschehen trotz allen Irrtumsrisikos. “  Hoche, zuvor als prominenter Freud-Feind bekannt, verwies auf „Ballastexistenzen“ und sah vor daß „wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung herantreten dass die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Roheit, sondern einen erlaubten, nützlichen Akt darstellt.“  Mit dem Aufstieg der Nazis haben sich diese Hoffnungen verwirklicht in Pirna-Sonnestein und anderen Tötungsanstalten. Die planmässige Ermordung  von Siechen, psychisch Kranken, und sowjetischen Kriegsgefangenen mit Gas wurde zur Generalprobe für Auschwitz, wie es Harry Friedlander in seinem Buch The origins of Nazi genocide From euthanasia to the final solution, 1995 darstellte. 
         
Zum Schluss. Heute ist die Psychiatrie nochmals in einer Krise und einem Dilemma: haben wir es mit Hirn-Pathologie oder mit seelischen und sozialen Prolemen zu tun? Vielleicht schmunzelt der Hirnanatom Flechsig in seinem Grabe: das Gehirn hat die Seele besiegt. Das chinesische Ideogramm für «Krise» läßt sich als Gefahr und Chance lesen. Hoffen wir, dass trotz aller Probleme dennoch Humanismus und Engagement für den Leidenden als das Leitlicht der Psychiatrie als Heilkunst erhalten bleiben wird. Vielleicht steckt Wahrheit in dem alten Spruch des Talmud: "Wer auch nur eine einzige Seele rettet, als ob er eine ganze Welt bewahrt hätte".

Zvi Lothane

Henry (Zvi) Lothane, MD, DLFAPA
Clinical Professor Department of Psychiatry Mount Sinai School of Medicine
1435 Lexington Avenue New York, NY 10128(212) 534 5555
Schreber@lothane.com
www.lothane.com

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