Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich stehe heute hier in einer Doppelfunktion. Als Vorsitzender und
Hausherr möchte ich Sie herzlich begrüßen, ganz besonders aber die zur
Weiterbildung neu Zugelassenen, derentwegen wir diese
Semestereröffnungsveranstaltung vor einigen Jahren erfunden haben.
Vielleicht sind diese so freundlich, einmal kurz aufzustehen, damit wir
auch sehen, wen wir besonders begrüßen wollen. Zugleich habe ich mich
als Vortragenden anzusagen. Den Neuzugelassenen begegnet die heimliche
Erwartung, sie sollten während ihrer Weiterbildung so etwas wie eine
psychoanalytische Identität erwerben. Was soll das aber besagen? Seit
ich vor etwa 25 Jahren unter die Psychoanalytiker geraten war, verfolgt
mich dieses Thema und entwickelte in mir eine Gefühlsskala von zunächst
Verwunderung und Erstaunen hin zu Unbehagen und Verärgerung. Mit meinem
Vortrag wollte ich dieser Gefühlslage auf die Spur kommen. Was dabei
herauskam, will ich Ihnen, wenigstens teilweise, heute erzählen. Dabei
muß ich aus Zeitgründen die kritische Diskussion der überaus zahlreichen
Veröffentlichungen zu diesem Thema überspringen.
(Für Ihre äußere und innere Zeiteinteilung: Ich werde etwa 45 Minuten
sprechen. Nach einer britischen Studie kann der durchschnittliche
Akademiker 37 Minuten aufmerksam zuhören und auf Tagträume und
anderweitige Nebengedanken verzichten. Das ist etwas mehr als 20
Minuten, die eine gute Predigt dauern durfte. Dabei beeinflußte die
Statistik wohl der regressive Sog des Kirchenschlafes.)
In meinem Bericht werden mehrere den Kundigen selbstverständliche
Abkürzungen vorkommen. Gestatten Sie mir, daß ich diese, den in solchen
Abbreviaturen noch Unerfahrenen in einem historischen Vorspann
vorstelle. Dieser Vorspann beschreibt zugleich die Matrix für die
Vektoren der ganzen Identitätsdebatte.
Das Wort Psychoanalyse wird von Freud erstmals im März 1896
angewendet. Im Oktober 1902 trifft sich die Psychologische
Mittwochsgesellschaft im Hause Freuds und nennt sich ab 1908 Wiener
Psychoanalytische Vereinigung. In Zürich war bereits 1907 durch C.G.Jung
eine Freud-Gesellschaft gegründet worden. 1908, im April, findet dann in
Salzburg der 1. Internationale Psychoanalytische Kongreß statt, dem im
August die Gründung der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung durch
Karl Abraham folgt.
Auf dem 2. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Nürnberg im
April 1910 kommt es zur Gründung der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung (in meinen Vortrag fortan IPV genannt). Ferenczi, der damals
den Grundsatzvortrag "Zur Organisation der psychoanalytischen Bewegung"
hielt, meinte, "daß ein gewisses Maß von gegenseitiger Kontrolle auch
auf wissenschaftlichem Gebiete nur günstig wirken" könne. Er warnte
freilich auch vor "Auswüchsen des Vereinslebens" und konstatiert, "daß
in den meisten politischen, geselligen und wissenschaftlichen Vereinen
infantiler Größenwahn, Eitelkeit, Anbetung leerer Formalitäten, blinder
Gehorsam oder persönlicher Egoismus herrschen anstatt ruhiger, ehrlicher
Arbeit für das Gesamtinteresse. " Das Vereinsleben sei "das Feld, auf
dem sich die sublimierte Homosexualität als Anbetung und Haß ausleben
kann". Doch hofft er, "die autoerotische Periode des Vereinslebens würde
allmählich durch die fortgeschrittene der Objektliebe abgelöst, die
nicht mehr im Kitzel der geistigen erogenen Zonen (Eitelkeit, Ehrgeiz),
sondern in den Objekten der Beobachtung selbst Befriedigung suche und
finde". Was heute als Identitätsfrage abgehandelt wird, liest sich bei
Ferenczi so: "Wir haben also außer unseren Publikationsorganen einen
Verein nötig, deren Mitgliedschaft einige Garantie dafür bietet, daß
wirklich Freuds psychoanalytisches Verfahren und nicht eine zum eigenen
Gebrauch zurecht gebraute Methode angewendet wird. Eine spezielle
Aufgabe des Vereins wäre es, die wissenschaftliche Freibeuterei, deren
Opfer die Psychoanalyse heute ist, zu entlarven. Genügende Sorgfalt und
Vorsicht bei der Aufnahme neuer Mitglieder würde es ermöglichen, den
Weizen von der Spreu zu sondern.... Daß die Stellungnahme für diesen
Verein heutzutage einen persönlichen Mut und den Verzicht auf
akademischen Ehrgeiz voraussetzt, ist nicht zu leugnen."
Die ausführlichen Zitate enthalten in nuce das ganze Thema meines
Vortrags, besonders deshalb auch, weil unser Institut und unsere
Mitglieder nicht Mitglied dieser damals gegründeten IPV sind.
Im Februar 1911 wird die New Yorker Psychoanalytische Vereinigung
gegründet. Im Juni desselben Jahres tritt Alfred Adler aus der Wiener
Vereinigung aus und kommt einem Ausschluß zuvor. Es folgt im Oktober
1912 der Austritt Stekels und im Oktober 1913 bricht C.G.Jung, der in
Salzburg zum Präsidenten der IPV gewählt worden war, mit Freud. Er tritt
im August 1914 aus der IPV aus. Ernst Jones hatte im Juni 1912 das
geheime "Comite" gegründet, das die Identität der psychoanalytischen
Bewegung sichern sollte. Freud selbst hat nur ungern die Geschichte
seiner psychoanalytischen Bewegung und ihre Krisen durch die sog.
Dissidenten beschrieben. Seiner kurzen GESCHICHTE DER PSYCHOANALYTISCHEN
BEWEGUNG aus dem Jahre 1914 stellte er ein Goethe-Motto voran: "Mach es
kurz; am Jüngsten Tag ist s nur ein Furz!". Bis dahin scheint dieser
anale Bewältigungsversuch aber durch mancherlei Blähungen seine Plage zu
behalten und sich seiner genitalen Reife zu entziehen. Die erhoffte
flatulente Kurzlebigkeit perpetuiert im Wiederholungszwang und in ihm
gedeiht die Sorge um das eigene Produkt. Im März 1924, 10 Jahre später,
schreibt er nach Auflösung des 1. geheimen Komitees an Ferenczi: "Ich
zweifle nicht daran, daß auch die anderen des ehemaligen Komitees
Rücksicht und Zuneigung für mich haben, und doch kommt es dazu, daß ich
im Stich gelassen werde, gerade nachdem ich ein Invalide, mit
herabgesetzter Arbeitskraft und geschwächter Stimmung geworden bin, der
jede Mehrbelastung von sich abweist und sich keiner Sorge mehr gewachsen
fühlt. (im Oktober 1923 wurde die radikale Kieferoperation durchgeführt)
Ich will Sie durch diese Klage nicht bewegen, eine n Schritt zur
Erhaltung des verlorengegangenen Komitees zu tun; ich weiß: hin ist hin,
verloren ist verloren. Ich habe das Komitee überlebt, das mein
Nachfolger werden sollte, vielleicht überlebe ich noch die
Internationale Vereinigung Hoffentlich überlebt mich die Psychoanalyse.
"
Ich markiere diesen Abschnitt im Blick auf mein Vortragsthema mit der
Überschrift: Die Identitätskrise um die psychoanalytische Theorie.
Die Identitätskrise um die psychoanalytische Praxis zeichnet sich auf
dem Hintergrund des nächsten Geschichtsabschnittes ab:
Es kam der erste Weltkrieg, der alle Verbindungen der IPV unterbrach.
Doch nach seinem Ende kam es zu einer kurzen Blütezeit der
Psychoanalyse, die sich auf dem 5. Internationalen Kongreß in Budapest
am 28. und 29.9.1918 demonstrierte. Auf diesem Kongreß waren erstmals
offizielle Regierungsvertreter aus Deutschland, Österreich und Ungarn
anwesend. Abraham, Ferenczi und Eitington hatten mit der
psychoanalytischen Behandlung sogenannter Kriegsneurosen die
Militärärzte so beeindruckt, daß sie die Einrichtung psychoanalytischer
Kliniken vorschlugen. Wie es das Leben so oft will, war Budapest noch in
anderer Hinsicht für die Psychoanalyse bedeutsam. Freud hatte einen
reichen Bierbrauer aus dieser Stadt, der nach Wien gekommen war, in
Behandlung genommen. Dieser Anton von Freund wurde zum Mäzen für die
leeren Kassen der IPV und ermöglichte ihr die Errichtung eines eigenen
Verlags. Das Geld war auch Thema des Vortrags, den Freud in Budapest
hielt. In ihm, unter WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE
veröffentlicht, formulierte er den bekannten Satz: "Irgend einmal wird
das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, daß der Arme ein
eben solches Anrecht auf seelische Hilfeleistung hat wie bereits jetzt
auf lebensrettende chirurgische Dann werden also Anstalten oder
Ordinationsinstitute errichtet werden, an denen psychoanalytisch
ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die sich sonst dem
Trunk ergeben würden, die Frauen, die unter der Last der Entsagungen
zusammenzubrechen drohen, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und
Neurose bevorsteht, durch Analyse widerstands- und leistungsfähig zu
erhalten." (Ob Freud gegen das Wort Tüchtigkeit an dieser Stelle etwas
eingewendet hätte?)
Dann heißt es bei Freud weiter: "Wir werden den einfachsten und
greifbarsten Ausdruck unserer theoretischen Lehren suchen müssen....
Möglicherweise werden wir oft nur dann etwas leisten könne, wenn wir die
seelische Hilfeleistung mit materieller Unterstützung nach Art des
Kaiser Joseph vereinigen können. Wir werden auch sehr wahrscheinlich
genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold
der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu
legieren, und auch die hypnotische Beeinflussung könnte dort wie bei der
Behandlung der Kriegsneurotiker wieder eine Stelle finden. Aber wie
immer sich auch diese Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen
Elementen sie sich zusammensetzen mag, ihre wirksamsten und wichtigsten
Bestandteile werden gewiß die bleiben, die von der strengen, der
tendenzlosen Psychoanalyse entlehnt worden sind."
Seither kursiert die Angst vor der Identitätsbedrohung der
Psychoanalytiker durch die Psychotherapie. Und diese Angst greift in die
aktuellen Diskussionen um Psychotherapeutengesetz und
Gebietsarztregelungen. Die ihr "P" stotternde DGPT, die Deutsche
Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und
Tiefenpsychologie, der Dachverband aller psychoanalytischen
Fachgesellschaften, hieß zu ihrer Gründerzeit Deutsche Gesellschaft für
Psychotherapie und Tiefenpsychologie. Auch unser Institut konnte sich
noch nicht entschließen, seinen Namen durch Psychoanalyse zu erweitern.
Die DGPT wurde zur DGPPT, als sie auch die Psychosomatik für sich
reklamierte. Schließlich kam erst vor wenigen Jahren die Psychoanalyse
und damit das dritte "P" hinzu. Mit einem graphischen Trick erreichte
man ein dreifach überlagertes "P", so daß uns das DGPPPT erspart blieb
und wir wieder mit den ursprünglichen 4 Buchstaben auskommen. Was wie
einfältige Vereinsmeierei aussieht, hat seine Beziehung zur
Identitätsfrage. Nicht nur Firmenlogos oder Parteiabzeichen, auch
Abkürzungen haben ihre identitätsstiftende Bedeutung.
Damit komme ich zu den Abkürzungen DGAP, DPG, und DPV. Die Mitglieder
der DGAP, der Deutschen Gesellschaft für analytische Psychologie, hatten
an unserem Institut über lange Jahre ihre Identitätsprobleme, als man
das Lehrgebäude C.G.Jungs im Weiterbildungscurriculum nur
"berücksichtige", wie es im Vorlesungsverzeichnis einst zu lesen war.
Heute haben sie sich als eigene Fachrichtung im Institut etabliert und
nach außen als C.G.Jung-Institut organisiert. Diese Geschichte hat
Hannes Dieckmann vor 4 Jahren auf der 40-Jahr-Feier des Instituts sehr
lebendig beschrieben. Sie ist in der Dokumentation der damaligen
Vorträge aufgezeichnet, die man für jetzt DM 30,-heute hier oder im
Sekretariat kaufen kann. Es scheint aber nicht nur eine arztrechtliche
Anpassung, sondern auch ein das Identitätsthema berührendes Bedürfnis zu
sein, wenn sich viele Jungianer zugleich als Psychoanalytiker
bezeichnen. Bei der erwähnten DGPT-Debatte plädierte, wenn ich mich
recht erinnere, eine einzige Jungianerin gegen die Einführung der
Bezeichnung Psychoanalyse in den Vereinsnamen und meinte stolz: "Ich bin
keine Psychoanalytikerin, sondern analytische Psychologin nach
C.G.Jung." Was in den Identitätstheorien unter dem Begriff
Identitätssprünge untersucht wird, möchte ich nur erwähnen, kann aber im
Rahmen eines zeitlich begrenzten Vortrags nicht näher darauf eingehen.
Ähnliches war und ist zu beobachten, wenn auch namensnäher, bei den
Mitgliedern der Neopsychoanalytischen Arbeitsgruppe Schultz-Henckes, die
in den ersten Vorlesungsverzeichnissen des Instituts noch als
eigenständige Trägergruppe neben der Deutschen Psychoanalytischen
Gesellschaft (DPG) aufgeführt waren. Obwohl Schultz-Hencke in seinem
bekannten Brief vom 28.3.1946 mit der Wahl der Bezeichnung
"Neopsychoanalytiker" von "allen bisher gültigen Lehrmeinungen
ausdrücklich Abstand" nahm und meinte, die Lehren Freuds, Adlers und
Jungs seien in ihrer Isoliertheit endgültig überholt, trat er nicht aus
der DPG aus, auch dann nicht, als auf dem Kongreß der IPV in Zürich, er
zum Urheber gestempelt wurde, weshalb die wiedergegründete DPG nicht
wieder in die IPV aufgenommen wurde. Hielten ihn vielleicht doch
unsichtbare Loyalitäten, oder genauer eine abgewehrte unbewußte
Identität, an Freud fest? Man muß daran denken, wenn man die rigide
Abwehrseite bedenkt, die eine schnodderige Aufzeichnung im Tagebuch
Schultz-Henckes erklären könnte. Als er 1939 vom Tode Freuds hört,
schreibt er kurz und bündig: "Freud gestorben - wohl gut für die
psychotherapeutische Weiterentwicklung!"
Ich komme zum letzten Teil der Vereins- und Namensgeschichten:
Die 1908 als Berliner Psychoanalytische Vereinigung, die seit 1910
Zweig der IPV wurde, benennt sich, nachdem sich in Deutschland weitere
Arbeitsgruppen gebildet hatten, in Deutsche Psychoanalytische
Gesellschaft (DPG) um. Unter dem Gleichschaltungsdruck der
Nazi-Machthaber und dem erzwungenen Austritt der jüdischen Mitglieder
findet 1936 der Austritt aus der IPV statt.1938 erfolgte die endgültige
Auflösung der DPG. Nach Kriegsende wurde die DPG 1946 mit dem historisch
nicht ganz richtigen Zusatz "gegr. 1910" wiedergegründet. Wie schon
erwähnt, kam die Wiederaufnahme 1949 auf dem Internationalen Kongreß in
Zürich nicht zustande. Eine Gruppe von DPG-Mitgliedern dieses Instituts
rückten vom Institut ab und gründeten neben einem eigenen Institut, das
heutige Karl-Abraham-Institut in der Sulzaerstraße, 1950 die Deutsche
Psychoanalytische Vereinigung, die sog. DPV, die 1961 in die IPV
aufgenommen wurde, während die DPG sich der damals überwiegend
neoanalytischen Internationalen Föderation Psychoanalytischer
Gesellschaften (IFPS) anschloß. Da Trennungen selten ohne
Kompromißbildungen ablaufen, kam es fast gleichzeitig zur Gründung der
DGPT, der Dachgesellschaft aller psychoanalytischen Fachgesellschaften
einschließlich der C.G.Jung Institute, der sich aber auch
fachgesellschaftsfreie Institute anschlossen und in der jüngst auch die
Aufnahme der A0lerianer, der DGIP, der Deutschen Gesellschaft für
Individualpsychologie, diskutiert wird.
Daß die Psychoanalyse seit der Einführung der Bereichsbezeichnung
Psychoanalyse auch im ärztlichen Freiraum gedeiht, ist Ihnen bekannt.
Viele dieser Ärzte sind in der AÄGP, der allgemeinen ärztlichen
Gesellschaft für Psychotherapie zusammengeschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum zweiten Teil:
Mit dem noch etwas jungen Brauch eines Semestereröffnungsvortrages
verbindet sich der Gedanke, die Integration von Mitgliedern,
Weiterbildungsteilnehmern und, wie wir sagen, Neuzugelassenen zu
fördern. Zum Integrieren gehört das Öffnen. Das ist für eine doch mehr
geschlossene Gesellschaft, wie wir Psychoanalytiker es sind, in
mehrfacher Hinsicht problematisch. Wir sind ja nicht einfach offen, wir
lassen zu. Die Zugelassenen sind Ausgewählte. Damit kann sich die
Assoziation verknüpfen, fortan zu einem auserwählten Volk zu gehören.
Ich vermute, daß sich hierzu eine unbewußte Identität gesellt, die
manche bereits angedeuteten Eigenarten unseres psychoanalytischen
Völkchens erklärt. Das Wort Identität, wie es Gegenstand meines
Vortrages ist, gebrauche ich dabei noch unkritisch. Ich will mich aber
auch noch nicht auf die Deutung dieser unbewußten Identitätsanteile
einlassen, sondern zunächst das Reden von der psychoanalytischen
Identität reflektieren, das ich merkwürdig nenne.
Merkwürdig deshalb, weil das Reden und Schreiben darüber seit
Jahrzehnten die verschiedenen psychoanalytischen Gemeinden in einer
Weise bewegt, in der Bewegung einem auf der Stelle treten gleichkommt.
Im Mai 1981 fand in Hamburg eine Arbeitstagung der DPV zum Thema
"Psychoanalytische Identität" statt. Schon 1964 schrieb Gitelson über
die Identitätskrise in der amerikanischen Psychoanalyse. Hampel stellte
in einer Arbeitsgruppe im Oktober 1990 auf dem DPG-Kongreß in Hannover
die Frage nach dem Identitätswiderstand der Nachkriegs-DPG. Wie ich
hörte, will Peter Diederichs dieser Frage auf dem kommenden DPG-Kongreß
im Mai 1992 in Berlin nachgehen, nachdem er über dieses Thema bereits in
der DPG-Arbeitsgruppe unseres Instituts eine Diskussion eröffnet hatte.
Die Liste läßt sich nahezu beliebig verlängern, sowohl mit Namen wie mit
Datierungen.
Schon 1977 schrieb Helmut Thomä in einer geistreichen Abhandlung über
Identität und Selbstverständnis des Psychoanalytikers:
"Mit der so häufigen jahrelangen Verzögerung stellen nun auch
deutsche Psychoanalytiker und Psychotherapeuten ihre beruflichen
Probleme in den Rahmen der Identitätstheorien. Sie fragen nach ihrem
"Selbstverständnis". Die DGPT widmete 1974 einen Kongreß anläßlich des
25 jährigen Bestehens dem Thema "Das Selbstverständnis des
Psychoanalytikers" mit einem Vortrag von Riemann. Die Bezeichnung
"Selbstverständnis" ist inzwischen en vogue und scheint den von Erikson
in die Psychoanalyse eingeführten Identitätsbegriff an Beliebtheit noch
zu übertreffen. Trotzdem fiihlte ich mich bei den Diskussionen über die
Identität des Psychoanalytikers nicht wohl."
Thomäs Unwohlsein ist auch ein Teil meiner Aussage, das Reden von der
psychoanalytischen Identität sei merkwürdig. Das wird sofort deutlich,
wenn wir eine Definition des Begriffes Identität versuchen. Er
oszilliert zwischen Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Soziologie.
Schauen wir in eine moderne von der DFG geförderte und eben
veröffentlichte Untersuchung von Helmut Fend über Identitätsentwicklung
in der Adoleszenz (1991), dann finden wir auch dort die Klage über den
inflationären Gebrauch des Begriffs Identität. Diese Inflation hängt
wiederum mit den unterschiedlichster, Selbstkonzepten zusammen, die
außerhalb und innerhalb der Psychoanalyse entwickelt wurden, und die
letztlich die Definition von Identität beeinflussen. So definieren
empirische Identitätsforscher wie Adams, Marcia und Waterman: "Identität
beziehe sich auf klar beschriebene Selbstdefinitionen, die jene Ziele,
Werte und Überzeugungen enthält, die eine Person für sich als persönlich
wichtig erachtet und denen sie sich verpflichtet fühlt." Mit dieser
operationalen Definition läßt sich dann Identität mit den
Forschungsinstrumenten wie klinische Interviews oder
Identitätsstatus-Erhebungen durch standardisierte Fragebogen
explorieren. Innerhalb unserer Gruppe benutzte Rudolf dieses Instrument,
um die Rezeption der Konzepte Schultz-Henckes unter den Mitgliedern der
DPG zu erkunden, freilich ohne damit direkt etwas über die
psychoanalytische Identität der DPG-Mitglieder aussagen zu wollen. Denn
auf der Ebene der genannten Bildungsforscher wird der von Erikson, dem
Vater der modernen Identitätstheorien, untersuchte Begriff auf den
Prozeß der individuellen Überzeugungsbildung reduziert. Für Erikson ist
Identität aber mehr ein Begriff, der einen Prozeß beschreibt. Ein
Prozeß, der einerseits im Kern des Individuums andererseits im Kern
seiner gemeinschaftlichen Kultur "lokalisiert" ist (Jugend und Krise, S.
18). Wie sich das anfühlt, vermittelt uns Sigmund Freud in seiner 1926
geschriebenen "Ansprache an die Mitglieder des Vereins B´nai
B'rith":
"Was mich ans Judentum band, war - ich bin schuldig, es zu bekennen -
nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz, denn ich war immer ein
Ungläubiger, bin ohne Religion erzogen worden, wenn auch nicht ohne
Respekt vor den "ethisch" genannten Forderungen der menschlichen Kultur.
Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn ich dazu neigte, zu
unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch
die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben. Aber es
blieb genug anderes übrig, was die Anziehung des Judentums und der Juden
unwiderstehlich machte, viele dunkle Gefühlsmächte, um so gewaltiger, je
weniger sie sich in Worte fassen ließen, ebenso wie die klare Bewußtheit
der inneren Identität, die Heimlichkeit dergleichen seelischen
Konstruktion. Und es kam bald die Einsicht, daß ich nur meiner jüdischen
Natur die zwei Eigenschaften verdankte, die mir auf meinem schwierigen
Lebensweg unerläßlich geworden waren. Weil ich Jude war, fand ich mich
frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts
beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu
gehen und auf das Einvernehmen mit der "kompakten Majorität" zu
verzichten."
Gegenüber einem solchen Bekenntnis klingt das Reden von der
psychoanalytischen Identität doch recht merkwürdig. Für Freud geht es um
eine Identität, die man nicht erwerben kann, weil man in sie
hineingeboren wird.
In ganz anderer Weise redet Johann Wolfgang von Goethe in Nr. 14
seiner Maximen und Reflexionen: "Nur im Höchsten und im Gemeinsten
trifft Idee und Erscheinung zusammen; auf allen mittleren Stufen des
Betrachtens und Erfahrens trennen sie sich. Das Höchste ist das
Anschauen des Verschiedenen als identisch; das Gemeinste ist die Tat,
das aktive Verbinden des Getrennten zur Identität". Ähnlich die
Identitätsphilosophie Schellings, nach der Reales und Ideales im
tiefsten Sinn identisch seien.
Wieder ganz anders der Schriftsteller Max Frisch, von dem Marcel
Reich-Ranitzky meint, er sei der Identitätsstifter unter den
zeitgenössischen Autoren: Frisch stiftet Identität, indem er Menschen
beschreibt, die unter ihrer Identität leiden und sie leugnen und los
werden wollen. Etwa im Maler Jürgen Reinhart, der alle Brücken hinter
sich abreißt und seinen Namen aufgibt, um seine Identität zu vergessen.
Oder Stiller, der in Untersuchungshaft sich seine Identität nachweisen
läßt, weil er bestreitet Stiller zu sein. Da wird großartig die
Divergenz zwischen der objektiven und der subjektiven Identität des
Menschen verdichtet, die Divergenz zwischen dem, was der Mensch zu sein
scheint, und dem, was er ist, zwischen dem, wofür er von der Welt
gehalten wird, und dem, was er selber zu sein glaubt. Oder in dem Stück
Andorra, in dem von einem jungen Mann, den man für einen Juden hält,
ständig ein fertiges Bild seiner Person erwartet wird, jenes nämlich,
das sich Menschen von einem Juden machen. Ein Lehrstück zum Studium von
Übertragung und Gegenübertragung. Frisch interpretiert dabei das alte
Mythologem, wonach der Mensch sich kein Bildnis machen solle, in der
Weise, daß der Mensch nicht nach der Identität des anderen fragen soll.
Schließlich besonders schön in Bin oder Die Reise nach Peking, wo der
Erzähler unter dem Arm eine Rolle, die er loswerden möchte, trägt, seine
Rolle, die er meint, immer spielen zu müssen. Er sehnt sich nach dem
unerreichbaren Peking, denn "eine Rolle, die man in Peking stehen ließe,
wäre für immer verloren.... Ohne sie, glaube ich immer, wäre ich selig
gewesen."
Der Begriff Identität gehört demnach zu jenen, von denen man sagt,
sie seien wie ein Sack. Man müsse ihn erst füllen, damit er steht. So
zählt ihn Roy Schafer auch zu den "lückenstopfenden Begriffen der
Metapsychologie" neben den von Hartmann eingeführten ichpsychologischen
Begriffen "angepaßtes Ich" und "Selbst". Unter Berufung auf Kuhns
"Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" (1970) meint er: "Wo größere
Lücken zwischen der Theorie und der Beobachtung oder der Anwendung
auftreten, da kann man erwarten, daß binnen kurzem allerlei Versuche
gemacht werden, die Lücken durch neue, ergänzende Begriffe oder durch
neue Anwendungen geläufiger Begriffe zu schließen. Dadurch werde aber
eine grundlegende theoretische Neuorientierung zumindest für eine lange
Zeit unwahrscheinlich . "(S.41).
Wenn Goethe einmal sagte, ("Erkenntnis und Wissenschaft in Maximen
und Reflexionen Nr. 407 und 451): In der Geschichte der Wissenschaften
werde eine bedeutende Ansicht ausgesprochen, dann wird sie früher oder
später anerkannt; "es finden sich Mitarbeiter; das Resultat geht in die
Schüler über; es wird gelehrt und fortgepflanzt, und wir bemerken
leider, daß es gar nicht darauf ankommt, ob eine Ansicht wahr oder
falsch sei: beides macht denselben Gang, beides wird zuletzt eine
Phrase, beides prägt sich als totes Wort dem Gedächtnis ein"; oder
Nietzsche noch kürzer: "Überzeugungen seien für die Wahrheit schädlicher
als Lügen", dann berührt dies die Identitätsvorstellungen von
wissenschaftlichen Institutionen, wie sie Emile Durkheim und Ludwig
Fleck untersucht haben. Identität heißt hier: Jede Gemeinschaft ist eine
Denkwelt, die ihren Ausdruck in einem Denkstil findet, der das Denken
und die Erfahrung ihrer Mitglieder prägt und die Pole ihrer
wissenschaftlichen Moralvorstellungen festlegt. Unterschiedliche
Institutionen lassen unterschiedliche individuelle Gedanken und
Empfindungen zu. Institutionen entwickeln Filter, die auswählen, was
Individuen erinnern und was sie vergessen. Die Sozial-Anthropologin Mary
Douglas bringt dazu eindrucksvolle Beispiele in dem eben bei Suhrkamp
erscheinenden Buch mit dem Titel: "Wie Institutionen denken" mit
zahlreichen Beispielen über erwartungsgefilterte Forschung, die unfähig
macht, Ergebnisse rivalisierender Forschungsgruppen zur Kenntnis zu
nehmen, zu erkennen. Zum Erkennen gehört Anerkennen der Identität des
anderen; ich möchte sagen, es gehört dazu Liebe, Eindringen und die
Fähigkeit, sich mit dem anderen zu vereinigen. In der hebräischen
Sprache heißt es zum Beispiel übersetzt: Und der Mensch (Adam) erkannte
sein Weib Chawwa (Eva) und sie wurde schwanger und gebar den Kain. Das
hebräische Wort "jada" meint nie ein Erkennen von etwas, sondern immer
ein Erkennen in Beziehung. Ein Eindringen in die Identität des anderen
und ein Sich-Öffnen für die Identität des anderen.
Übertragen wir das in aller Behutsamkeit auf Gruppen, dann erfahren
wir, wie ich es ausdrücken möchte, mehr von einer Pathologie der
Identität, einer Identität, die sich nur in Abgrenzung von anderen
aufrecht erhalten läßt.
Freud hat das Abgrenzungsthema mit dem alttestamentlichen Wort
"Schiboleth" eingeführt. Seither kommt die Identitätsfrage unter
Psychoanalytikern in typischen und bekannten Fragen zum Ausdruck, wovon
die eine und verbreitetste lautet: "Ist das noch psychoanalytisch, was
der oder die da macht? Dabei wechselt der Gegenstand. "Sind Analysen
unter 4 Wochenstunden noch Psychoanalyse zu nennen? " oder "Ist es
analytisch, sich von einem Patienten einen Blumenstrauß schenken zu
lassen oder ihm gar selbst etwas zu schenken?" Ein Tummelplatz für
solche Fragen ist alles, was mit der sog. Abstinenzregel zusammenhängt.
Man beruft sich auf die technischen Schriften, die sogenannten
technischen Regeln, wie Alfred Köhler gerne einschränkt, als seien sie
endgültige Aussagen über das psychoanalytische Setting. Da vergleicht
Freud den Psychoanalytiker in der bekannten Metapher vom Chirurgen, "der
alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite
drängt." Es gibt aber auch den anderen Freud, der an Pfister schreibt:
"was dann von der Übertragung erübrigt, darf, ja soll den Charakter
einer herzlichen menschlichen Beziehung haben". Ich empfehle in diesem
Zusammenhang das neue Büchlein von Helmut Junker: VON FREUD IN DEN
FREUDIANERN.
Freud hat sein Schiboleth mehrfach geändert. Das Wort Schiboleth
stammt aus dem Buch der Richter des Alten Testamentes. Da ging es in
einem Krieg um die Abwehr von Agenten des feindlichen Stammes. Wenn
einer Siboleth statt Schiboleth sagte, dann war mit dieser kleinen
Dialektvariante der Agent entlarvt. Freud benutzte das Wort als
Erkennungszeichen für die Psychoanalyse erstmals für seine Traumtheorie
im Gegensatz zu Adler, in das Ich und das Es nennt er die Unterscheidung
des Psychischen in Bewußtes und Unbewußtes das erste Schiboleth, an dem
sich die Geister scheiden und in der Neuen Folge der Vorlesungen
schreibt er: "Die Traumlehre ist seither auch das Kennzeichnendste und
Eigentümlichste der jungen Wissenschaft geblieben. Daneben erscheint der
Begriff Schiboleth in mehreren Briefen Freuds. So mahnt er den Pfarrer
Pfister in Erinnerung an die Schwierigkeiten der Schweizer mit der
Libidotheorie, daß "... das Moment der Sexualität... unser Schiboleth
ist."
Beland hatte in seiner 1983 im Jahrbuch der Psychoanalyse
erschienenen Arbeit mit dem Titel: WAS IST UND WOZU ENTSTEHT
PSYCHOANALYTISCHE IDENTITÄT? den genialen Einfall, das Thema mit dem 300
Jahre alten Adiaphora-Streit des Protestantismus in Verbindung zu
bringen. Hier ging es um die typischen Formen des Identitätskonfliktes
einer Gruppe. Damals sollte in Hamburg eine Oper gebaut werden. In der
Hamburger Bürgerschaft entstand ein erbitterter Streit, ob Theater,
Tanz, Tabakgenuß, Freizeitvergnügen aller Art Adiaphora, d.h. moralisch
indifferente Handlungen seien, weder geboten noch verboten, weder gut
noch böse, weder christliche Pflichterfüllung noch Pflichtverletzung
bedeuteten. Die damals herrschende Orthodoxie hielt diese Adiaphora für
"erlaubt", die pietistischen Gruppierungen hielten sie mit einem
konsequenten christlichen Leben "unvereinbar". Beide Identitäten
entstammten der selben reformatorischen Wurzel. Kants moralischer
Imperativ stand in der pietistischen Tradition. In seiner RELIG1ON
INNERHALB DER GRENZEN bloßer VERNUNFT meinte er: Es liegt der
Sittenlehre überhaupt viel daran, keine moralischen Mitteldinge weder in
Handlungen (Adiaphora) noch in menschlichen Charakteren, solange es
möglich ist einzuräumen: weil bei einer solchen Doppelsinnigkeit alle
Maximen Gefahr laufen, ihre Bestimmtheit und Festigkeit einzubüßen". Die
Oper wurde damals in Hamburg nicht gebaut.
Ich denke, es lohnte sich, unsere psychoanalytische Identitätsdebatte
einmal daraufhin zu überprüfen, ob und wieviel latente pietistische
Struktur unsere inneren psychoanalytischen Haltungen determiniert. Auf
dem letzten DPG-Kongreß in Hannover war es wohl, als ein zur
Podiumdiskussion hinzugebetener nichtanalytischer wissenschaftlicher
Gast seine Anmutung zum Ausdruck brachte: "Ich habe etwas den Eindruck,
in einer pietistischen Versammlung zu sein."
Die Psychoanalyse beruht auf den einmaligen Entdeckungen Freuds, sie
ist aber keine Offenbarungswissenschaft, die, wie Lindner kürzlich
formulierte, ein und für allemal in Sigmund Freud offenbart sei.
Andrerseits ist sie (noch) keine Normalwissenschaft, was Thomä und
Cremerius ständig fordern. Sie kennt keinen stetigen
Erkenntnisfortschritt. Ihre Erkenntnisse sind den verschiedensten
Abwehrleistungen abgerungen; sie unterliegen als einmal gewonnene
Erkenntnisse aber der ständigen Gefahr ihres erneuten Verkennens und
Verdrängens. "Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten" bedürfen der
regelmäßigen Arbeitsleistung, ähnlich der gärtnerischen Arbeit, deren
Ergebnisse ständig durch wilde Produkte des Bodens und was in ihm
verborgen lebt, bedroht werden. Es gibt keine eindeutige
psychoanalytische Kultur, die eine eindeutige Identität vermitteln
könnte. Ihre Kultur ist das ständige und beständige Kultivieren im
gärtnerischen Sinne, zu der auch die ständige und beständige
Eigenanalyse gehört, die nie abgeschlossen sein kann. Und zur
Eigenanalyse gehört die Konfrontation und Ich-Steuerung der negativen
Identitäten, die sich in ihrer Bedrohung der Errichtung von Feindbildern
bedienen oder in ihrer milderen Form als Identitätskonfusion äußern,
etwa in der Frage: in welchem Lager denn nun die richtige Psychoanalyse
betrieben werde. Identität ist dabei häufig Tröstung über die
narzißtische Kränkung der kleinen Differenz.
Das darf aber nicht mit der Frage nach einer wissenschaftlich
korrekten Aus-, Weiter- und Fortbildung verwechselt werden. Wenn
Kernberg feststellt, die psychoanalytischen Institutionen gleichen eher
Berufsschulen und theologischen Seminaren als Universitäten und
Kunstakademien, so mag er mit dem Berufsschulvergleich recht haben. Die
von Rhode-Dachser beschriebene "wissenschaftliche Oasenexistenz der
Psychoanalytiker" bringt es wohl mit sich, daß er von theologischen
Seminaren keine Ahnung hat. Ich wünschte unseren Seminaren etwas von der
Gründlichkeit wissenschaftlicher Arbeit an Texten, wie sie in den
theologischen Fakultäten selbstverständlich ist.
Wir kämen dann wohl bald zu einer ähnlichen Feststellung, wie sie Roy
Schafer anstellte, wenn er fragt: "Hat es denn einen Sinn, wenn wir als
Beobachter oder Theoretiker Formulierungen wie diese gebrauchen" "jemand
habe ein Selbst oder eine Identität, als ob dies beides Dinge wären, die
man haben oder besitzen könnte? Sind beides denn auch nur unbestreitbare
phänomenologische Gegebenheiten? Sind es Tatsachen, die man entdecken
kann? ... Selbst und Identität sind ihrerseits veränderlich. Ihre
Veränderlichkeit besteht jedoch nicht in Schwankungen einer empirisch
vorfindlichen Größe, sondern in den wechselnden Zwecken, zu denen der
Beobachter diese Ausdrücke gebraucht. Sie existieren nur im Vokabular
des Beobachters.
Schafer sieht das ganze Problem darin, daß wir mit Freuds
Metapsychologie Schwierigkeiten haben und nun Ergänzungstheorien
entwickeln, die sich von der Metapsychologie nicht ganz trennen lassen.
So entsteht ein theoretisches Verbundsystem mit ständig einstürzenden
Pfeilern. Die Metapsychologie muß neu erforscht und formuliert werden.
Ohne eine solche gibt es keine wissenschaftliche und daraus abgeleitet
klinische Identität.
Ich bin zwar nicht am Ende, komme aber zum Schluß. Die vielfach
verleugnete Todestrieblehre Freuds zeigt uns die Identitätssuche auch
als Abwehr gegen das Vergängliche. Doch das Suchen und Rufen nach der
Identität ist nicht nur Widerstand gegen das Vergängliche und gegen den
Tod. Es mobilisiert auch das Töten und Ausgrenzen. ''Der Schoß ist
fruchtbar noch!", wie wir an der Wiedergeburt ausländerhaßerfüllter
neuer Hitlerjungen und -mädchen in unserem Lande erschreckt erleben.
Identität ist von negativer Identität nicht zu trennen. Adorno hat in
seiner Negativen Dialektik einen Abschnitt "Nach Auschwitz" benannt.
Aufklärung als Projekt einer fortschreitenden vernünftigen Durchdringung
aller menschlichen Verhältnisse schlägt in ihr Gegenteil um.
Philosophie, als Denken der Identität hat sich in ihrer destruktiven
Wahrheit offenbart. "Auschwitz bestätigt das Philosophem von der reinen
Identität als dem Tod ". Drei Jahre vor ihrer Verbrennung hier in Berlin
waren die damals, 1931, vorliegenden 11 Bände als Gesammelte Werke
Freuds veröffentlicht worden. Die literarische und politische
Zeitschrift DIE WELTBÜHNE, deren Herausgeber, Karl von Ossietzky, eines
der ersten Opfer der Nazis sein sollte, veröffentlichte mit der
Unterschrift Kurt Tucholskys eine der schönsten Würdigungen:
"Die Gesamtausgabe der Freudschen Schriften ist da. Elf Bände, die
die Welt erschütterten. Einer der wenigen Männer, die diesen Mann
richtig sehen, scheint Freud zu sein. Mit dem Lorbeergemüse seines Ruhms
kann er die faulen Äpfel seiner Tadler garnieren, und wenn er weise ist,
sieht er die Schar seiner Schüler an und denkt sich sein Teil. Lassen
wir die schlechten Schüler, halten wir uns an die guten und halten wir
uns an ihn.
Langsam beginnt sich das Fleisch von diesem Werk zu lösen, das
Zufällige, das Alltägliche - und es bleibt das Skelett. Wir können nicht
sehen, was davon noch im Jahre 1995 lebendig sein wird, und ob überhaupt
noch etwas lebendig sein wird, nämlich in der Form, die er ihm gegeben
hat. Fortwirken wird es, das kann man sagen.
Er hat eine Tür aufgemacht, die bis dahin verschlossen war.
Es gibt Partien in diesen elf Bänden, besonders in den ersten, die
muten an wie ein spannender Kriminalroman. Wie da die Theorien langsam
keimen und aus den platzenden Hüllen kriechen, wie sie sich scheu ans
Licht wagen, ins Helle sehen und plötzlich sehr bestimmt und fest
auftreten: Nun sind sie da und leben und wirken. Die Darstellungskunst
Freuds ist fast überall die gleiche: in den grundlegenden Schriften, in
den kleinen Aufsätzen, so in dem wunderschönen Gedächtnisartikel für
Charcot - überall ist ein klarer, methodisch ordnender Geist am
Werk.
Das Modische an diesen Schriften wird vergehen; die kindische Freude
der Amerikaner und sonstiger puritanisch verbildeter Völker, nun einmal
öffentlich über Sexualität sprechen zu können ...das hat mit Freud nicht
viel zu tun. Bleiben wird der große Erneuerter alter verschütteter
Wahrheiten -der Wahrheit: Der Wille des Menschen ist nicht frei.
Die Grenzen Freuds werden in seinem Gesamtwerk erkenntlich. Er ist
nicht der liebe Gott, doch hat er uns gelehrt, wieviel
Krankheitsgeschichte in den gereizten Kritiken über ihn zu finden
ist.
Man versteht nicht, wenn man diese Bände nicht kennt. Sigmund Freud
wird am 6.Mai fünfundsiebzig Jahre alt. Wir grüßen ihn voller Liebe und
Respekt. "
Das war s. Ich konnte Ihnen zum Schluß keine bessere Geschichte
erzählen.
Gerd Böttcher
Bismarckstrasse 30
14109 Berlin
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