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Das merkwürdige Reden von der psychoanalytischen Identität

Vortrag zur Semestereröffnung 1991
von Gerd Böttcher

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich stehe heute hier in einer Doppelfunktion. Als Vorsitzender und Hausherr möchte ich Sie herzlich begrüßen, ganz besonders aber die zur Weiterbildung neu Zugelassenen, derentwegen wir diese Semestereröffnungsveranstaltung vor einigen Jahren erfunden haben. Vielleicht sind diese so freundlich, einmal kurz aufzustehen, damit wir auch sehen, wen wir besonders begrüßen wollen. Zugleich habe ich mich als Vortragenden anzusagen. Den Neuzugelassenen begegnet die heimliche Erwartung, sie sollten während ihrer Weiterbildung so etwas wie eine psychoanalytische Identität erwerben. Was soll das aber besagen? Seit ich vor etwa 25 Jahren unter die Psychoanalytiker geraten war, verfolgt mich dieses Thema und entwickelte in mir eine Gefühlsskala von zunächst Verwunderung und Erstaunen hin zu Unbehagen und Verärgerung. Mit meinem Vortrag wollte ich dieser Gefühlslage auf die Spur kommen. Was dabei herauskam, will ich Ihnen, wenigstens teilweise, heute erzählen. Dabei muß ich aus Zeitgründen die kritische Diskussion der überaus zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema überspringen.

(Für Ihre äußere und innere Zeiteinteilung: Ich werde etwa 45 Minuten sprechen. Nach einer britischen Studie kann der durchschnittliche Akademiker 37 Minuten aufmerksam zuhören und auf Tagträume und anderweitige Nebengedanken verzichten. Das ist etwas mehr als 20 Minuten, die eine gute Predigt dauern durfte. Dabei beeinflußte die Statistik wohl der regressive Sog des Kirchenschlafes.)

In meinem Bericht werden mehrere den Kundigen selbstverständliche Abkürzungen vorkommen. Gestatten Sie mir, daß ich diese, den in solchen Abbreviaturen noch Unerfahrenen in einem historischen Vorspann vorstelle. Dieser Vorspann beschreibt zugleich die Matrix für die Vektoren der ganzen Identitätsdebatte.

Das Wort Psychoanalyse wird von Freud erstmals im März 1896 angewendet. Im Oktober 1902 trifft sich die Psychologische Mittwochsgesellschaft im Hause Freuds und nennt sich ab 1908 Wiener Psychoanalytische Vereinigung. In Zürich war bereits 1907 durch C.G.Jung eine Freud-Gesellschaft gegründet worden. 1908, im April, findet dann in Salzburg der 1. Internationale Psychoanalytische Kongreß statt, dem im August die Gründung der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung durch Karl Abraham folgt.

Auf dem 2. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Nürnberg im April 1910 kommt es zur Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (in meinen Vortrag fortan IPV genannt). Ferenczi, der damals den Grundsatzvortrag "Zur Organisation der psychoanalytischen Bewegung" hielt, meinte, "daß ein gewisses Maß von gegenseitiger Kontrolle auch auf wissenschaftlichem Gebiete nur günstig wirken" könne. Er warnte freilich auch vor "Auswüchsen des Vereinslebens" und konstatiert, "daß in den meisten politischen, geselligen und wissenschaftlichen Vereinen infantiler Größenwahn, Eitelkeit, Anbetung leerer Formalitäten, blinder Gehorsam oder persönlicher Egoismus herrschen anstatt ruhiger, ehrlicher Arbeit für das Gesamtinteresse. " Das Vereinsleben sei "das Feld, auf dem sich die sublimierte Homosexualität als Anbetung und Haß ausleben kann". Doch hofft er, "die autoerotische Periode des Vereinslebens würde allmählich durch die fortgeschrittene der Objektliebe abgelöst, die nicht mehr im Kitzel der geistigen erogenen Zonen (Eitelkeit, Ehrgeiz), sondern in den Objekten der Beobachtung selbst Befriedigung suche und finde". Was heute als Identitätsfrage abgehandelt wird, liest sich bei Ferenczi so: "Wir haben also außer unseren Publikationsorganen einen Verein nötig, deren Mitgliedschaft einige Garantie dafür bietet, daß wirklich Freuds psychoanalytisches Verfahren und nicht eine zum eigenen Gebrauch zurecht gebraute Methode angewendet wird. Eine spezielle Aufgabe des Vereins wäre es, die wissenschaftliche Freibeuterei, deren Opfer die Psychoanalyse heute ist, zu entlarven. Genügende Sorgfalt und Vorsicht bei der Aufnahme neuer Mitglieder würde es ermöglichen, den Weizen von der Spreu zu sondern.... Daß die Stellungnahme für diesen Verein heutzutage einen persönlichen Mut und den Verzicht auf akademischen Ehrgeiz voraussetzt, ist nicht zu leugnen."

Die ausführlichen Zitate enthalten in nuce das ganze Thema meines Vortrags, besonders deshalb auch, weil unser Institut und unsere Mitglieder nicht Mitglied dieser damals gegründeten IPV sind.

Im Februar 1911 wird die New Yorker Psychoanalytische Vereinigung gegründet. Im Juni desselben Jahres tritt Alfred Adler aus der Wiener Vereinigung aus und kommt einem Ausschluß zuvor. Es folgt im Oktober 1912 der Austritt Stekels und im Oktober 1913 bricht C.G.Jung, der in Salzburg zum Präsidenten der IPV gewählt worden war, mit Freud. Er tritt im August 1914 aus der IPV aus. Ernst Jones hatte im Juni 1912 das geheime "Comite" gegründet, das die Identität der psychoanalytischen Bewegung sichern sollte. Freud selbst hat nur ungern die Geschichte seiner psychoanalytischen Bewegung und ihre Krisen durch die sog. Dissidenten beschrieben. Seiner kurzen GESCHICHTE DER PSYCHOANALYTISCHEN BEWEGUNG aus dem Jahre 1914 stellte er ein Goethe-Motto voran: "Mach es kurz; am Jüngsten Tag ist s nur ein Furz!". Bis dahin scheint dieser anale Bewältigungsversuch aber durch mancherlei Blähungen seine Plage zu behalten und sich seiner genitalen Reife zu entziehen. Die erhoffte flatulente Kurzlebigkeit perpetuiert im Wiederholungszwang und in ihm gedeiht die Sorge um das eigene Produkt. Im März 1924, 10 Jahre später, schreibt er nach Auflösung des 1. geheimen Komitees an Ferenczi: "Ich zweifle nicht daran, daß auch die anderen des ehemaligen Komitees Rücksicht und Zuneigung für mich haben, und doch kommt es dazu, daß ich im Stich gelassen werde, gerade nachdem ich ein Invalide, mit herabgesetzter Arbeitskraft und geschwächter Stimmung geworden bin, der jede Mehrbelastung von sich abweist und sich keiner Sorge mehr gewachsen fühlt. (im Oktober 1923 wurde die radikale Kieferoperation durchgeführt) Ich will Sie durch diese Klage nicht bewegen, eine n Schritt zur Erhaltung des verlorengegangenen Komitees zu tun; ich weiß: hin ist hin, verloren ist verloren. Ich habe das Komitee überlebt, das mein Nachfolger werden sollte, vielleicht überlebe ich noch die Internationale Vereinigung Hoffentlich überlebt mich die Psychoanalyse. "

Ich markiere diesen Abschnitt im Blick auf mein Vortragsthema mit der Überschrift: Die Identitätskrise um die psychoanalytische Theorie.

Die Identitätskrise um die psychoanalytische Praxis zeichnet sich auf dem Hintergrund des nächsten Geschichtsabschnittes ab:

Es kam der erste Weltkrieg, der alle Verbindungen der IPV unterbrach. Doch nach seinem Ende kam es zu einer kurzen Blütezeit der Psychoanalyse, die sich auf dem 5. Internationalen Kongreß in Budapest am 28. und 29.9.1918 demonstrierte. Auf diesem Kongreß waren erstmals offizielle Regierungsvertreter aus Deutschland, Österreich und Ungarn anwesend. Abraham, Ferenczi und Eitington hatten mit der psychoanalytischen Behandlung sogenannter Kriegsneurosen die Militärärzte so beeindruckt, daß sie die Einrichtung psychoanalytischer Kliniken vorschlugen. Wie es das Leben so oft will, war Budapest noch in anderer Hinsicht für die Psychoanalyse bedeutsam. Freud hatte einen reichen Bierbrauer aus dieser Stadt, der nach Wien gekommen war, in Behandlung genommen. Dieser Anton von Freund wurde zum Mäzen für die leeren Kassen der IPV und ermöglichte ihr die Errichtung eines eigenen Verlags. Das Geld war auch Thema des Vortrags, den Freud in Budapest hielt. In ihm, unter WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE veröffentlicht, formulierte er den bekannten Satz: "Irgend einmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, daß der Arme ein eben solches Anrecht auf seelische Hilfeleistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische Dann werden also Anstalten oder Ordinationsinstitute errichtet werden, an denen psychoanalytisch ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die sich sonst dem Trunk ergeben würden, die Frauen, die unter der Last der Entsagungen zusammenzubrechen drohen, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und Neurose bevorsteht, durch Analyse widerstands- und leistungsfähig zu erhalten." (Ob Freud gegen das Wort Tüchtigkeit an dieser Stelle etwas eingewendet hätte?)

Dann heißt es bei Freud weiter: "Wir werden den einfachsten und greifbarsten Ausdruck unserer theoretischen Lehren suchen müssen.... Möglicherweise werden wir oft nur dann etwas leisten könne, wenn wir die seelische Hilfeleistung mit materieller Unterstützung nach Art des Kaiser Joseph vereinigen können. Wir werden auch sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren, und auch die hypnotische Beeinflussung könnte dort wie bei der Behandlung der Kriegsneurotiker wieder eine Stelle finden. Aber wie immer sich auch diese Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen Elementen sie sich zusammensetzen mag, ihre wirksamsten und wichtigsten Bestandteile werden gewiß die bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psychoanalyse entlehnt worden sind."

Seither kursiert die Angst vor der Identitätsbedrohung der Psychoanalytiker durch die Psychotherapie. Und diese Angst greift in die aktuellen Diskussionen um Psychotherapeutengesetz und Gebietsarztregelungen. Die ihr "P" stotternde DGPT, die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie, der Dachverband aller psychoanalytischen Fachgesellschaften, hieß zu ihrer Gründerzeit Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie. Auch unser Institut konnte sich noch nicht entschließen, seinen Namen durch Psychoanalyse zu erweitern. Die DGPT wurde zur DGPPT, als sie auch die Psychosomatik für sich reklamierte. Schließlich kam erst vor wenigen Jahren die Psychoanalyse und damit das dritte "P" hinzu. Mit einem graphischen Trick erreichte man ein dreifach überlagertes "P", so daß uns das DGPPPT erspart blieb und wir wieder mit den ursprünglichen 4 Buchstaben auskommen. Was wie einfältige Vereinsmeierei aussieht, hat seine Beziehung zur Identitätsfrage. Nicht nur Firmenlogos oder Parteiabzeichen, auch Abkürzungen haben ihre identitätsstiftende Bedeutung.

Damit komme ich zu den Abkürzungen DGAP, DPG, und DPV. Die Mitglieder der DGAP, der Deutschen Gesellschaft für analytische Psychologie, hatten an unserem Institut über lange Jahre ihre Identitätsprobleme, als man das Lehrgebäude C.G.Jungs im Weiterbildungscurriculum nur "berücksichtige", wie es im Vorlesungsverzeichnis einst zu lesen war. Heute haben sie sich als eigene Fachrichtung im Institut etabliert und nach außen als C.G.Jung-Institut organisiert. Diese Geschichte hat Hannes Dieckmann vor 4 Jahren auf der 40-Jahr-Feier des Instituts sehr lebendig beschrieben. Sie ist in der Dokumentation der damaligen Vorträge aufgezeichnet, die man für jetzt DM 30,-heute hier oder im Sekretariat kaufen kann. Es scheint aber nicht nur eine arztrechtliche Anpassung, sondern auch ein das Identitätsthema berührendes Bedürfnis zu sein, wenn sich viele Jungianer zugleich als Psychoanalytiker bezeichnen. Bei der erwähnten DGPT-Debatte plädierte, wenn ich mich recht erinnere, eine einzige Jungianerin gegen die Einführung der Bezeichnung Psychoanalyse in den Vereinsnamen und meinte stolz: "Ich bin keine Psychoanalytikerin, sondern analytische Psychologin nach C.G.Jung." Was in den Identitätstheorien unter dem Begriff Identitätssprünge untersucht wird, möchte ich nur erwähnen, kann aber im Rahmen eines zeitlich begrenzten Vortrags nicht näher darauf eingehen. Ähnliches war und ist zu beobachten, wenn auch namensnäher, bei den Mitgliedern der Neopsychoanalytischen Arbeitsgruppe Schultz-Henckes, die in den ersten Vorlesungsverzeichnissen des Instituts noch als eigenständige Trägergruppe neben der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) aufgeführt waren. Obwohl Schultz-Hencke in seinem bekannten Brief vom 28.3.1946 mit der Wahl der Bezeichnung "Neopsychoanalytiker" von "allen bisher gültigen Lehrmeinungen ausdrücklich Abstand" nahm und meinte, die Lehren Freuds, Adlers und Jungs seien in ihrer Isoliertheit endgültig überholt, trat er nicht aus der DPG aus, auch dann nicht, als auf dem Kongreß der IPV in Zürich, er zum Urheber gestempelt wurde, weshalb die wiedergegründete DPG nicht wieder in die IPV aufgenommen wurde. Hielten ihn vielleicht doch unsichtbare Loyalitäten, oder genauer eine abgewehrte unbewußte Identität, an Freud fest? Man muß daran denken, wenn man die rigide Abwehrseite bedenkt, die eine schnodderige Aufzeichnung im Tagebuch Schultz-Henckes erklären könnte. Als er 1939 vom Tode Freuds hört, schreibt er kurz und bündig: "Freud gestorben - wohl gut für die psychotherapeutische Weiterentwicklung!"

Ich komme zum letzten Teil der Vereins- und Namensgeschichten:

Die 1908 als Berliner Psychoanalytische Vereinigung, die seit 1910 Zweig der IPV wurde, benennt sich, nachdem sich in Deutschland weitere Arbeitsgruppen gebildet hatten, in Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) um. Unter dem Gleichschaltungsdruck der Nazi-Machthaber und dem erzwungenen Austritt der jüdischen Mitglieder findet 1936 der Austritt aus der IPV statt.1938 erfolgte die endgültige Auflösung der DPG. Nach Kriegsende wurde die DPG 1946 mit dem historisch nicht ganz richtigen Zusatz "gegr. 1910" wiedergegründet. Wie schon erwähnt, kam die Wiederaufnahme 1949 auf dem Internationalen Kongreß in Zürich nicht zustande. Eine Gruppe von DPG-Mitgliedern dieses Instituts rückten vom Institut ab und gründeten neben einem eigenen Institut, das heutige Karl-Abraham-Institut in der Sulzaerstraße, 1950 die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung, die sog. DPV, die 1961 in die IPV aufgenommen wurde, während die DPG sich der damals überwiegend neoanalytischen Internationalen Föderation Psychoanalytischer Gesellschaften (IFPS) anschloß. Da Trennungen selten ohne Kompromißbildungen ablaufen, kam es fast gleichzeitig zur Gründung der DGPT, der Dachgesellschaft aller psychoanalytischen Fachgesellschaften einschließlich der C.G.Jung Institute, der sich aber auch fachgesellschaftsfreie Institute anschlossen und in der jüngst auch die Aufnahme der A0lerianer, der DGIP, der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie, diskutiert wird.

Daß die Psychoanalyse seit der Einführung der Bereichsbezeichnung Psychoanalyse auch im ärztlichen Freiraum gedeiht, ist Ihnen bekannt. Viele dieser Ärzte sind in der AÄGP, der allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie zusammengeschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum zweiten Teil:

Mit dem noch etwas jungen Brauch eines Semestereröffnungsvortrages verbindet sich der Gedanke, die Integration von Mitgliedern, Weiterbildungsteilnehmern und, wie wir sagen, Neuzugelassenen zu fördern. Zum Integrieren gehört das Öffnen. Das ist für eine doch mehr geschlossene Gesellschaft, wie wir Psychoanalytiker es sind, in mehrfacher Hinsicht problematisch. Wir sind ja nicht einfach offen, wir lassen zu. Die Zugelassenen sind Ausgewählte. Damit kann sich die Assoziation verknüpfen, fortan zu einem auserwählten Volk zu gehören. Ich vermute, daß sich hierzu eine unbewußte Identität gesellt, die manche bereits angedeuteten Eigenarten unseres psychoanalytischen Völkchens erklärt. Das Wort Identität, wie es Gegenstand meines Vortrages ist, gebrauche ich dabei noch unkritisch. Ich will mich aber auch noch nicht auf die Deutung dieser unbewußten Identitätsanteile einlassen, sondern zunächst das Reden von der psychoanalytischen Identität reflektieren, das ich merkwürdig nenne.

Merkwürdig deshalb, weil das Reden und Schreiben darüber seit Jahrzehnten die verschiedenen psychoanalytischen Gemeinden in einer Weise bewegt, in der Bewegung einem auf der Stelle treten gleichkommt. Im Mai 1981 fand in Hamburg eine Arbeitstagung der DPV zum Thema "Psychoanalytische Identität" statt. Schon 1964 schrieb Gitelson über die Identitätskrise in der amerikanischen Psychoanalyse. Hampel stellte in einer Arbeitsgruppe im Oktober 1990 auf dem DPG-Kongreß in Hannover die Frage nach dem Identitätswiderstand der Nachkriegs-DPG. Wie ich hörte, will Peter Diederichs dieser Frage auf dem kommenden DPG-Kongreß im Mai 1992 in Berlin nachgehen, nachdem er über dieses Thema bereits in der DPG-Arbeitsgruppe unseres Instituts eine Diskussion eröffnet hatte. Die Liste läßt sich nahezu beliebig verlängern, sowohl mit Namen wie mit Datierungen.

Schon 1977 schrieb Helmut Thomä in einer geistreichen Abhandlung über Identität und Selbstverständnis des Psychoanalytikers:

"Mit der so häufigen jahrelangen Verzögerung stellen nun auch deutsche Psychoanalytiker und Psychotherapeuten ihre beruflichen Probleme in den Rahmen der Identitätstheorien. Sie fragen nach ihrem "Selbstverständnis". Die DGPT widmete 1974 einen Kongreß anläßlich des 25 jährigen Bestehens dem Thema "Das Selbstverständnis des Psychoanalytikers" mit einem Vortrag von Riemann. Die Bezeichnung "Selbstverständnis" ist inzwischen en vogue und scheint den von Erikson in die Psychoanalyse eingeführten Identitätsbegriff an Beliebtheit noch zu übertreffen. Trotzdem fiihlte ich mich bei den Diskussionen über die Identität des Psychoanalytikers nicht wohl."

Thomäs Unwohlsein ist auch ein Teil meiner Aussage, das Reden von der psychoanalytischen Identität sei merkwürdig. Das wird sofort deutlich, wenn wir eine Definition des Begriffes Identität versuchen. Er oszilliert zwischen Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Soziologie. Schauen wir in eine moderne von der DFG geförderte und eben veröffentlichte Untersuchung von Helmut Fend über Identitätsentwicklung in der Adoleszenz (1991), dann finden wir auch dort die Klage über den inflationären Gebrauch des Begriffs Identität. Diese Inflation hängt wiederum mit den unterschiedlichster, Selbstkonzepten zusammen, die außerhalb und innerhalb der Psychoanalyse entwickelt wurden, und die letztlich die Definition von Identität beeinflussen. So definieren empirische Identitätsforscher wie Adams, Marcia und Waterman: "Identität beziehe sich auf klar beschriebene Selbstdefinitionen, die jene Ziele, Werte und Überzeugungen enthält, die eine Person für sich als persönlich wichtig erachtet und denen sie sich verpflichtet fühlt." Mit dieser operationalen Definition läßt sich dann Identität mit den Forschungsinstrumenten wie klinische Interviews oder Identitätsstatus-Erhebungen durch standardisierte Fragebogen explorieren. Innerhalb unserer Gruppe benutzte Rudolf dieses Instrument, um die Rezeption der Konzepte Schultz-Henckes unter den Mitgliedern der DPG zu erkunden, freilich ohne damit direkt etwas über die psychoanalytische Identität der DPG-Mitglieder aussagen zu wollen. Denn auf der Ebene der genannten Bildungsforscher wird der von Erikson, dem Vater der modernen Identitätstheorien, untersuchte Begriff auf den Prozeß der individuellen Überzeugungsbildung reduziert. Für Erikson ist Identität aber mehr ein Begriff, der einen Prozeß beschreibt. Ein Prozeß, der einerseits im Kern des Individuums andererseits im Kern seiner gemeinschaftlichen Kultur "lokalisiert" ist (Jugend und Krise, S. 18). Wie sich das anfühlt, vermittelt uns Sigmund Freud in seiner 1926 geschriebenen "Ansprache an die Mitglieder des Vereins B´nai B'rith":

"Was mich ans Judentum band, war - ich bin schuldig, es zu bekennen - nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz, denn ich war immer ein Ungläubiger, bin ohne Religion erzogen worden, wenn auch nicht ohne Respekt vor den "ethisch" genannten Forderungen der menschlichen Kultur. Ein nationales Hochgefühl habe ich, wenn ich dazu neigte, zu unterdrücken mich bemüht, als unheilvoll und ungerecht, erschreckt durch die warnenden Beispiele der Völker, unter denen wir Juden leben. Aber es blieb genug anderes übrig, was die Anziehung des Judentums und der Juden unwiderstehlich machte, viele dunkle Gefühlsmächte, um so gewaltiger, je weniger sie sich in Worte fassen ließen, ebenso wie die klare Bewußtheit der inneren Identität, die Heimlichkeit dergleichen seelischen Konstruktion. Und es kam bald die Einsicht, daß ich nur meiner jüdischen Natur die zwei Eigenschaften verdankte, die mir auf meinem schwierigen Lebensweg unerläßlich geworden waren. Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der "kompakten Majorität" zu verzichten."

Gegenüber einem solchen Bekenntnis klingt das Reden von der psychoanalytischen Identität doch recht merkwürdig. Für Freud geht es um eine Identität, die man nicht erwerben kann, weil man in sie hineingeboren wird.

In ganz anderer Weise redet Johann Wolfgang von Goethe in Nr. 14 seiner Maximen und Reflexionen: "Nur im Höchsten und im Gemeinsten trifft Idee und Erscheinung zusammen; auf allen mittleren Stufen des Betrachtens und Erfahrens trennen sie sich. Das Höchste ist das Anschauen des Verschiedenen als identisch; das Gemeinste ist die Tat, das aktive Verbinden des Getrennten zur Identität". Ähnlich die Identitätsphilosophie Schellings, nach der Reales und Ideales im tiefsten Sinn identisch seien.

Wieder ganz anders der Schriftsteller Max Frisch, von dem Marcel Reich-Ranitzky meint, er sei der Identitätsstifter unter den zeitgenössischen Autoren: Frisch stiftet Identität, indem er Menschen beschreibt, die unter ihrer Identität leiden und sie leugnen und los werden wollen. Etwa im Maler Jürgen Reinhart, der alle Brücken hinter sich abreißt und seinen Namen aufgibt, um seine Identität zu vergessen. Oder Stiller, der in Untersuchungshaft sich seine Identität nachweisen läßt, weil er bestreitet Stiller zu sein. Da wird großartig die Divergenz zwischen der objektiven und der subjektiven Identität des Menschen verdichtet, die Divergenz zwischen dem, was der Mensch zu sein scheint, und dem, was er ist, zwischen dem, wofür er von der Welt gehalten wird, und dem, was er selber zu sein glaubt. Oder in dem Stück Andorra, in dem von einem jungen Mann, den man für einen Juden hält, ständig ein fertiges Bild seiner Person erwartet wird, jenes nämlich, das sich Menschen von einem Juden machen. Ein Lehrstück zum Studium von Übertragung und Gegenübertragung. Frisch interpretiert dabei das alte Mythologem, wonach der Mensch sich kein Bildnis machen solle, in der Weise, daß der Mensch nicht nach der Identität des anderen fragen soll. Schließlich besonders schön in Bin oder Die Reise nach Peking, wo der Erzähler unter dem Arm eine Rolle, die er loswerden möchte, trägt, seine Rolle, die er meint, immer spielen zu müssen. Er sehnt sich nach dem unerreichbaren Peking, denn "eine Rolle, die man in Peking stehen ließe, wäre für immer verloren.... Ohne sie, glaube ich immer, wäre ich selig gewesen."

Der Begriff Identität gehört demnach zu jenen, von denen man sagt, sie seien wie ein Sack. Man müsse ihn erst füllen, damit er steht. So zählt ihn Roy Schafer auch zu den "lückenstopfenden Begriffen der Metapsychologie" neben den von Hartmann eingeführten ichpsychologischen Begriffen "angepaßtes Ich" und "Selbst". Unter Berufung auf Kuhns "Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" (1970) meint er: "Wo größere Lücken zwischen der Theorie und der Beobachtung oder der Anwendung auftreten, da kann man erwarten, daß binnen kurzem allerlei Versuche gemacht werden, die Lücken durch neue, ergänzende Begriffe oder durch neue Anwendungen geläufiger Begriffe zu schließen. Dadurch werde aber eine grundlegende theoretische Neuorientierung zumindest für eine lange Zeit unwahrscheinlich . "(S.41).

Wenn Goethe einmal sagte, ("Erkenntnis und Wissenschaft in Maximen und Reflexionen Nr. 407 und 451): In der Geschichte der Wissenschaften werde eine bedeutende Ansicht ausgesprochen, dann wird sie früher oder später anerkannt; "es finden sich Mitarbeiter; das Resultat geht in die Schüler über; es wird gelehrt und fortgepflanzt, und wir bemerken leider, daß es gar nicht darauf ankommt, ob eine Ansicht wahr oder falsch sei: beides macht denselben Gang, beides wird zuletzt eine Phrase, beides prägt sich als totes Wort dem Gedächtnis ein"; oder Nietzsche noch kürzer: "Überzeugungen seien für die Wahrheit schädlicher als Lügen", dann berührt dies die Identitätsvorstellungen von wissenschaftlichen Institutionen, wie sie Emile Durkheim und Ludwig Fleck untersucht haben. Identität heißt hier: Jede Gemeinschaft ist eine Denkwelt, die ihren Ausdruck in einem Denkstil findet, der das Denken und die Erfahrung ihrer Mitglieder prägt und die Pole ihrer wissenschaftlichen Moralvorstellungen festlegt. Unterschiedliche Institutionen lassen unterschiedliche individuelle Gedanken und Empfindungen zu. Institutionen entwickeln Filter, die auswählen, was Individuen erinnern und was sie vergessen. Die Sozial-Anthropologin Mary Douglas bringt dazu eindrucksvolle Beispiele in dem eben bei Suhrkamp erscheinenden Buch mit dem Titel: "Wie Institutionen denken" mit zahlreichen Beispielen über erwartungsgefilterte Forschung, die unfähig macht, Ergebnisse rivalisierender Forschungsgruppen zur Kenntnis zu nehmen, zu erkennen. Zum Erkennen gehört Anerkennen der Identität des anderen; ich möchte sagen, es gehört dazu Liebe, Eindringen und die Fähigkeit, sich mit dem anderen zu vereinigen. In der hebräischen Sprache heißt es zum Beispiel übersetzt: Und der Mensch (Adam) erkannte sein Weib Chawwa (Eva) und sie wurde schwanger und gebar den Kain. Das hebräische Wort "jada" meint nie ein Erkennen von etwas, sondern immer ein Erkennen in Beziehung. Ein Eindringen in die Identität des anderen und ein Sich-Öffnen für die Identität des anderen.

Übertragen wir das in aller Behutsamkeit auf Gruppen, dann erfahren wir, wie ich es ausdrücken möchte, mehr von einer Pathologie der Identität, einer Identität, die sich nur in Abgrenzung von anderen aufrecht erhalten läßt.

Freud hat das Abgrenzungsthema mit dem alttestamentlichen Wort "Schiboleth" eingeführt. Seither kommt die Identitätsfrage unter Psychoanalytikern in typischen und bekannten Fragen zum Ausdruck, wovon die eine und verbreitetste lautet: "Ist das noch psychoanalytisch, was der oder die da macht? Dabei wechselt der Gegenstand. "Sind Analysen unter 4 Wochenstunden noch Psychoanalyse zu nennen? " oder "Ist es analytisch, sich von einem Patienten einen Blumenstrauß schenken zu lassen oder ihm gar selbst etwas zu schenken?" Ein Tummelplatz für solche Fragen ist alles, was mit der sog. Abstinenzregel zusammenhängt. Man beruft sich auf die technischen Schriften, die sogenannten technischen Regeln, wie Alfred Köhler gerne einschränkt, als seien sie endgültige Aussagen über das psychoanalytische Setting. Da vergleicht Freud den Psychoanalytiker in der bekannten Metapher vom Chirurgen, "der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt." Es gibt aber auch den anderen Freud, der an Pfister schreibt: "was dann von der Übertragung erübrigt, darf, ja soll den Charakter einer herzlichen menschlichen Beziehung haben". Ich empfehle in diesem Zusammenhang das neue Büchlein von Helmut Junker: VON FREUD IN DEN FREUDIANERN.

Freud hat sein Schiboleth mehrfach geändert. Das Wort Schiboleth stammt aus dem Buch der Richter des Alten Testamentes. Da ging es in einem Krieg um die Abwehr von Agenten des feindlichen Stammes. Wenn einer Siboleth statt Schiboleth sagte, dann war mit dieser kleinen Dialektvariante der Agent entlarvt. Freud benutzte das Wort als Erkennungszeichen für die Psychoanalyse erstmals für seine Traumtheorie im Gegensatz zu Adler, in das Ich und das Es nennt er die Unterscheidung des Psychischen in Bewußtes und Unbewußtes das erste Schiboleth, an dem sich die Geister scheiden und in der Neuen Folge der Vorlesungen schreibt er: "Die Traumlehre ist seither auch das Kennzeichnendste und Eigentümlichste der jungen Wissenschaft geblieben. Daneben erscheint der Begriff Schiboleth in mehreren Briefen Freuds. So mahnt er den Pfarrer Pfister in Erinnerung an die Schwierigkeiten der Schweizer mit der Libidotheorie, daß "... das Moment der Sexualität... unser Schiboleth ist."

Beland hatte in seiner 1983 im Jahrbuch der Psychoanalyse erschienenen Arbeit mit dem Titel: WAS IST UND WOZU ENTSTEHT PSYCHOANALYTISCHE IDENTITÄT? den genialen Einfall, das Thema mit dem 300 Jahre alten Adiaphora-Streit des Protestantismus in Verbindung zu bringen. Hier ging es um die typischen Formen des Identitätskonfliktes einer Gruppe. Damals sollte in Hamburg eine Oper gebaut werden. In der Hamburger Bürgerschaft entstand ein erbitterter Streit, ob Theater, Tanz, Tabakgenuß, Freizeitvergnügen aller Art Adiaphora, d.h. moralisch indifferente Handlungen seien, weder geboten noch verboten, weder gut noch böse, weder christliche Pflichterfüllung noch Pflichtverletzung bedeuteten. Die damals herrschende Orthodoxie hielt diese Adiaphora für "erlaubt", die pietistischen Gruppierungen hielten sie mit einem konsequenten christlichen Leben "unvereinbar". Beide Identitäten entstammten der selben reformatorischen Wurzel. Kants moralischer Imperativ stand in der pietistischen Tradition. In seiner RELIG1ON INNERHALB DER GRENZEN bloßer VERNUNFT meinte er: Es liegt der Sittenlehre überhaupt viel daran, keine moralischen Mitteldinge weder in Handlungen (Adiaphora) noch in menschlichen Charakteren, solange es möglich ist einzuräumen: weil bei einer solchen Doppelsinnigkeit alle Maximen Gefahr laufen, ihre Bestimmtheit und Festigkeit einzubüßen". Die Oper wurde damals in Hamburg nicht gebaut.

Ich denke, es lohnte sich, unsere psychoanalytische Identitätsdebatte einmal daraufhin zu überprüfen, ob und wieviel latente pietistische Struktur unsere inneren psychoanalytischen Haltungen determiniert. Auf dem letzten DPG-Kongreß in Hannover war es wohl, als ein zur Podiumdiskussion hinzugebetener nichtanalytischer wissenschaftlicher Gast seine Anmutung zum Ausdruck brachte: "Ich habe etwas den Eindruck, in einer pietistischen Versammlung zu sein."

Die Psychoanalyse beruht auf den einmaligen Entdeckungen Freuds, sie ist aber keine Offenbarungswissenschaft, die, wie Lindner kürzlich formulierte, ein und für allemal in Sigmund Freud offenbart sei. Andrerseits ist sie (noch) keine Normalwissenschaft, was Thomä und Cremerius ständig fordern. Sie kennt keinen stetigen Erkenntnisfortschritt. Ihre Erkenntnisse sind den verschiedensten Abwehrleistungen abgerungen; sie unterliegen als einmal gewonnene Erkenntnisse aber der ständigen Gefahr ihres erneuten Verkennens und Verdrängens. "Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten" bedürfen der regelmäßigen Arbeitsleistung, ähnlich der gärtnerischen Arbeit, deren Ergebnisse ständig durch wilde Produkte des Bodens und was in ihm verborgen lebt, bedroht werden. Es gibt keine eindeutige psychoanalytische Kultur, die eine eindeutige Identität vermitteln könnte. Ihre Kultur ist das ständige und beständige Kultivieren im gärtnerischen Sinne, zu der auch die ständige und beständige Eigenanalyse gehört, die nie abgeschlossen sein kann. Und zur Eigenanalyse gehört die Konfrontation und Ich-Steuerung der negativen Identitäten, die sich in ihrer Bedrohung der Errichtung von Feindbildern bedienen oder in ihrer milderen Form als Identitätskonfusion äußern, etwa in der Frage: in welchem Lager denn nun die richtige Psychoanalyse betrieben werde. Identität ist dabei häufig Tröstung über die narzißtische Kränkung der kleinen Differenz.

Das darf aber nicht mit der Frage nach einer wissenschaftlich korrekten Aus-, Weiter- und Fortbildung verwechselt werden. Wenn Kernberg feststellt, die psychoanalytischen Institutionen gleichen eher Berufsschulen und theologischen Seminaren als Universitäten und Kunstakademien, so mag er mit dem Berufsschulvergleich recht haben. Die von Rhode-Dachser beschriebene "wissenschaftliche Oasenexistenz der Psychoanalytiker" bringt es wohl mit sich, daß er von theologischen Seminaren keine Ahnung hat. Ich wünschte unseren Seminaren etwas von der Gründlichkeit wissenschaftlicher Arbeit an Texten, wie sie in den theologischen Fakultäten selbstverständlich ist.

Wir kämen dann wohl bald zu einer ähnlichen Feststellung, wie sie Roy Schafer anstellte, wenn er fragt: "Hat es denn einen Sinn, wenn wir als Beobachter oder Theoretiker Formulierungen wie diese gebrauchen" "jemand habe ein Selbst oder eine Identität, als ob dies beides Dinge wären, die man haben oder besitzen könnte? Sind beides denn auch nur unbestreitbare phänomenologische Gegebenheiten? Sind es Tatsachen, die man entdecken kann? ... Selbst und Identität sind ihrerseits veränderlich. Ihre Veränderlichkeit besteht jedoch nicht in Schwankungen einer empirisch vorfindlichen Größe, sondern in den wechselnden Zwecken, zu denen der Beobachter diese Ausdrücke gebraucht. Sie existieren nur im Vokabular des Beobachters.

Schafer sieht das ganze Problem darin, daß wir mit Freuds Metapsychologie Schwierigkeiten haben und nun Ergänzungstheorien entwickeln, die sich von der Metapsychologie nicht ganz trennen lassen. So entsteht ein theoretisches Verbundsystem mit ständig einstürzenden Pfeilern. Die Metapsychologie muß neu erforscht und formuliert werden. Ohne eine solche gibt es keine wissenschaftliche und daraus abgeleitet klinische Identität.

Ich bin zwar nicht am Ende, komme aber zum Schluß. Die vielfach verleugnete Todestrieblehre Freuds zeigt uns die Identitätssuche auch als Abwehr gegen das Vergängliche. Doch das Suchen und Rufen nach der Identität ist nicht nur Widerstand gegen das Vergängliche und gegen den Tod. Es mobilisiert auch das Töten und Ausgrenzen. ''Der Schoß ist fruchtbar noch!", wie wir an der Wiedergeburt ausländerhaßerfüllter neuer Hitlerjungen und -mädchen in unserem Lande erschreckt erleben. Identität ist von negativer Identität nicht zu trennen. Adorno hat in seiner Negativen Dialektik einen Abschnitt "Nach Auschwitz" benannt. Aufklärung als Projekt einer fortschreitenden vernünftigen Durchdringung aller menschlichen Verhältnisse schlägt in ihr Gegenteil um. Philosophie, als Denken der Identität hat sich in ihrer destruktiven Wahrheit offenbart. "Auschwitz bestätigt das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod ". Drei Jahre vor ihrer Verbrennung hier in Berlin waren die damals, 1931, vorliegenden 11 Bände als Gesammelte Werke Freuds veröffentlicht worden. Die literarische und politische Zeitschrift DIE WELTBÜHNE, deren Herausgeber, Karl von Ossietzky, eines der ersten Opfer der Nazis sein sollte, veröffentlichte mit der Unterschrift Kurt Tucholskys eine der schönsten Würdigungen:

"Die Gesamtausgabe der Freudschen Schriften ist da. Elf Bände, die die Welt erschütterten. Einer der wenigen Männer, die diesen Mann richtig sehen, scheint Freud zu sein. Mit dem Lorbeergemüse seines Ruhms kann er die faulen Äpfel seiner Tadler garnieren, und wenn er weise ist, sieht er die Schar seiner Schüler an und denkt sich sein Teil. Lassen wir die schlechten Schüler, halten wir uns an die guten und halten wir uns an ihn.

Langsam beginnt sich das Fleisch von diesem Werk zu lösen, das Zufällige, das Alltägliche - und es bleibt das Skelett. Wir können nicht sehen, was davon noch im Jahre 1995 lebendig sein wird, und ob überhaupt noch etwas lebendig sein wird, nämlich in der Form, die er ihm gegeben hat. Fortwirken wird es, das kann man sagen.

Er hat eine Tür aufgemacht, die bis dahin verschlossen war.

Es gibt Partien in diesen elf Bänden, besonders in den ersten, die muten an wie ein spannender Kriminalroman. Wie da die Theorien langsam keimen und aus den platzenden Hüllen kriechen, wie sie sich scheu ans Licht wagen, ins Helle sehen und plötzlich sehr bestimmt und fest auftreten: Nun sind sie da und leben und wirken. Die Darstellungskunst Freuds ist fast überall die gleiche: in den grundlegenden Schriften, in den kleinen Aufsätzen, so in dem wunderschönen Gedächtnisartikel für Charcot - überall ist ein klarer, methodisch ordnender Geist am Werk.

Das Modische an diesen Schriften wird vergehen; die kindische Freude der Amerikaner und sonstiger puritanisch verbildeter Völker, nun einmal öffentlich über Sexualität sprechen zu können ...das hat mit Freud nicht viel zu tun. Bleiben wird der große Erneuerter alter verschütteter Wahrheiten -der Wahrheit: Der Wille des Menschen ist nicht frei.

Die Grenzen Freuds werden in seinem Gesamtwerk erkenntlich. Er ist nicht der liebe Gott, doch hat er uns gelehrt, wieviel Krankheitsgeschichte in den gereizten Kritiken über ihn zu finden ist.

Man versteht nicht, wenn man diese Bände nicht kennt. Sigmund Freud wird am 6.Mai fünfundsiebzig Jahre alt. Wir grüßen ihn voller Liebe und Respekt. "

Das war s. Ich konnte Ihnen zum Schluß keine bessere Geschichte erzählen.

Gerd Böttcher
Bismarckstrasse 30
14109 Berlin


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