ZURÜCK

Tilmann Moser
Die Krise der Psychoanalyse
Was fangen die Psychotherapeuten mit dem Körper an?
Kritische Gedanken eines Analytikers, der ihn häufig berührt
Mit der Einladung an alle Leserinnen und Leser zur Diskussion

Berührung in der Psychoanalyse lange wurde lange gleichgesetzt mit Verführung, Sexualisierung, Manipulation und Missbrauch. Dagegen wurde in ihrer klassischen Form zum Schutz beider Partner eine strikte Abstinenz vor dem Anfassen des Patienten vorordnet, die überaus sinnvoll und wirksam war: die Bewahrung eines nicht übergriffigen „Settings“ war oberstes Gebot. Aber auch die analytischen Körpertherapeuten, die mit Berührung arbeiten, haben ihre eigene strenge Abstinenzforderung: es dürften keine egoistischen Ziele verfolgt werden, die dem Patienten schaden könnten.

Fast könnte man meinen, es herrsche Feindschaft zwischen den beiden therapeutischen Bereichen Sprache und Körper, zumindest was den realen, berührenden, einbeziehenden Umgang mit dem Körper angeht: die Psychoanalyse ausschließlich als /Redekur,/ und dabei soll es immer noch bleiben, Berührung ist unstatthaft bis verboten, auch wenn manche Patienten, vor allem die mit den sogenannten frühen Störungen, sie notwendig bräuchten. Sie haben zu wenig körperlichen Halt, Abgrenzung, stützenden oder vitalisierenden Umgang erlebt, sie sind hungrig geblieben nach belebender und das noch unsichere Selbst des Kindes stärkender „Interaktion“ mit Eltern oder Pflegepersonen. Von Freud stammt der immer wieder zitiert Satz, das Ich sei in den Anfangen ein „vorwiegend ein körperliches“, mit den vorsprachlichen Erlebnisweisen, die für die verbale Erinnerung kaum zugänglich sind.

Deshalb wird herkömmlich vor allem von und mit einem „symbolischen Körper“ gesprochen, wenn es um diesen gehen soll. Körperbild, Körperempfindungen, Empfindungsstörungen, Suchtpotentiale, körperlich wahrnehmbare Depressionen und Phobien werden „besprochen“, aber nicht auf der Ebene ihrer frühen Entstehung behandelt.

Zwar hat die Redekur bedeutende Fortschritte gemacht durch die Einbeziehung der Säuglings- und Kleinkindforschung, deren Ergebnisse auch auf vielen anrührenden Filmen nachvollziehbar sind; die Einbeziehung der Gehirnforschung konnte die Affekte auch in ihrer physiologischen Basis auf dem Bildschirm zeigen. Die frühen Beziehungen des Säuglings und Kleinkinds sind Körperbeziehungen, auch wenn die begleitenden Laute und geflüsterten Worte wichtig sind für den späteren Spracherwerb und die Benennung und das bewusste Erleben von Gefühlen. Der Körper behält seine riesigen unbewussten Gedächtnisspeicher, und
wenn er berührt wird, öffnet sich sein ungeheures Reservoir von gelebten Begegnungen, die späteres Fühlen und Verhalten tief prägen.

Freud hat den körperlich aktiven Psychoanalytiker Grodeck hoch geschätzt, ihn aber seinen Schülern nie wirklich zur Nachahmung empfohlen. Er war zu erschrocken über die Abwege, Übergriffe und Verwirrungen mancher Schüler, weil ihm bange war um den Ruf seiner Wissenschaft und Behandlungslehre. Selbst seinen langjährigen Lieblingsschüler Sándor Ferenczi hat er streng kritisiert und fast verstoßen, weil ihm dessen Berührungsexperimente manchmal zu weit gingen, weil er wegen seiner pionierhaften Unerfahrenheit zu wenig Grenzen kannte.

Aber Freuds Ablehnung dieser frühen „analytische Körperpsychotherapie“ hat sich zu einem Bann ausgeweitet, und der im Grunde vielversprechende Weg wurde nicht weiter verfolgt, im Gegenteil, es wurde anrüchig, konkret mit dem Körper zu arbeiten. Viele vernachlässigten, traumatisierten, seelisch und körperlich geschlagenen Patienten verhungern seelisch und körperlich weiter auf der Couch, eigneten sich, um die dringend benötigte Nähe zum Therapeuten zu finden. Sie ereignen sich aber das Vokabular, Denkweise, den Sprachstil ihres Analytikers, an, um wenigstens ein Stück konkrter Nähe zu finden.

Dennoch, für unendlich viele Paitienten wurde auch die reine Redekur zur Rettung, vor allem bei umgrenzten neurotischen Störungen, die sich vorwiegend verbal handhaben ließen. Die geschulte Einfühlung der Analytiker weitete sich auf immer neue Störungen aus, die emotional anregbare, auch verstrickbare Seele des Therapeuten wurde zu einem immer differenzierteren Mittel der Einfühlung und des theoretischen Verstehens.

Und dennoch blieben viele Patienten mit ihrem frühen Elend auf der Strecke, sie wussten enorm viel über sich selbst, hatten auch manche viele Konflikte und Hemmungen auflösen können. Aber Scharen von Therapeuten haben Menschen erlebt, die nach Zweit-oder Drittanalysen herumirrten, weil psychosomatisch Wichtiges gefehlt hatte. Trotzdem blieb das Tabu bestehen: Berührung ist verderblich, weil Erotisierung und Sexualisierung drohen, zu große Nähe und Verschmelzung, zu viel Regression und falsche Verwöhnung, und was der Vorwürfe mehr sind, die in Sackgassen führen.

Diese kritischen Einwände führten in vielen Fällen bei den Therapeuten zu einer regelrechten Angst vor dem konkreten Körper, und medizinisch mit Berührung geschulte Analytiker mussten umlernen: jetzt galt Berührung als gefährlich, übergriffig, nicht vom Patientenwohl gesteuert, sondern von den schlecht kontrollierten Eigenbedürfnissen der Therapeuten.

Wichtig ist, wer mit Berührung arbeitet, und eine Reihe von Kollegen tun es nur heimlich, braucht eine zusätzlich Aus- oder Fortbildung, damit der Therapeut seinen eigenen Körper als therapeutisches Instrument kennen und handhaben lernt. Das ist vielen Kollegen nach ihrer jahre- oder jahrezehntelangen Ausbildung, auf die man stolz ist, und an deren Disziplin-Kanon man sich gewöhnt hat, einfach zu anstrengend. Trotzdem suchen inzwischen viele, zum Teil wiederum heimlich, ein Stück nachholender Selbsterfahrung, die sie dann aber kaum anwenden aus Angst um ihren untadeligen Ruf. Dies Heimlichkeit führt oft in die Unwahrhaftigkeit, besonders wenn die kreativen kleinen Abweichungen vom Erlaubten nicht in die Antragsberichte für die Krankenkassen geschrieben werden dürfen, wegen der Gefahr von strenger Kritik oder Ablehnung durch die auf Korrektheit der Lehre eingestellten Gutachter.

*Die Bedeutung der berührenden Hand in der Analyse*

Um dem Leser ein Beispiel zu geben,was ich mit einer einfachen Form von Berührung meine, zitiere ich aus einem größeren Aufsatz von mir: Die Bedeutung der Hand in der analytischen Körperpsychotherapie

„Verliebt spielen Mütter und Väter mit den kleinen Händchen ihrer Babys und Kleinkinder. Sie genießen es, wenn sich die Fingerchen um den großen Daumen schließen, das Greifen lernen und Halt suchen für erste Übungen des Sich-Aufrichtens. Die elterlichen Hände bedeuten viel: Zufuhr von Wärme, Sicherheit und Geborgenheit, Form gebende Massage; Turngeräte; Krangreifer zum Hochheben und Aufsammeln nach einem Sturz; Beruhigung in den Stürmen überstarker Gefühle. Sie sind Symbole der verschiedensten Formen von Nähe, des Festhaltens wie des Freigebens; leider auch Werkzeuge des Strafens, aber auch des Streichelns, der Zärtlichkeiten wie der Übergriffe. Sie können kitzeln, kraulen und tätscheln, schlagen und wiedergutmachen. Sensible Dichter haben Gedichte verfasst über Mutters Hände und Vaters Fäuste oder schwielige Pranken. Elternhände spiegeln das ganze kindliche Beziehungsschicksal, vom ersten vorsichtigen Greifen bis zum Spazieren an der Hand, vom Loslassen bis zu eiligen Rückkehr zu haltendem Trost und zur zielstrebigen Führung.

Patienten bringen ihre Hände mit in die Psychotherapie. In der klassischen Psychoanalyse bleiben sie unberührt, bis auf das meist kurze Handdrücken bei der Begrüßung oder dem Abschied. Man kann über die Hände sprechen, über frühes Glück und über Hände zugefügtes Leid. Aber beim Gegenüber-Sitzen oder auf der Couch bleiben sie untätig, werden nicht mehr berührt, berühren nur noch den eigenen Körper, nesteln an der Kleidung, streichen Trost suchend über den eigenen Mund, halten die
Wange oder den schweren Kopf, halten sich aneinander fest, umklammern mit Hilfe der Arme die eigenen Schultern oder schließen sich angestrengt und Halt gebend oder suchend um die eigene Brust, auch um Angst zu verbergen oder Trotz zu signalisieren. Manchmal wollen sie sich zur Faust ballen, manchmal werden sie heiß vor Sehnsucht oder stoßen unhörbare Hilfeschreie aus, nach Nähe, Rettung oder der Vergewisserung, dass das Gegenüber wirklich aus Fleisch und Blut ist und nicht nur Übertragungsattrappe.

Die engherzige, ängstliche, jeden Körperkontakt vermeidende sogenannte „Abstinenz“ kann retraumatisierend wirken: Es gibt eine verzweifelte, ja kosmische Einsamkeit bei manchen Störungen, die nicht durch die warmherzigste, wohlwollendste Empathie in der Stimme gemildert oder gar geheilt werden kann. Sie kann die unbewusste oder bewusstseinsnahe Überzeugung verstärken, der eigene Körper sei abstoßend, räudig oder sonst wie ekelhaft, und der Analytiker hüte sich aus diesem Grund vor jeder Berührung. Es gibt Patienten, die sich in ihrer unerfüllbaren Sehnsucht, aus elterlicher Kälte und Vernachlässigung entstanden, sogar mit den indischen „Unberührbaren“ identifizieren. Deshalb wird der Begrüßungs- und Abschiedshändedruck vom Patienten oft überbewertet. Prüderie und leibfeindliche Ängstlichkeit spielten sich in die Hände, inmitten einer Gesellschaft, die Erotik und Sexualität hysterisierte und schließlich in der Werbung allgegenwärtig machte.

Zurück zur Hand: Gerade Menschen, die früh Übergriffe oder Missbrauch erlebt haben, spüren genau, ob und wie viel echte Abstinenz in der Hand eines Therapeuten steckt. Deshalb ist es Pflicht des berührenden Analytikers, sich immer wieder durch Fragen zu orientieren, wie eine Berührung empfunden wird.

Die Berührung durch die Hand ist das Angebot eines erweiterten Containers für alle Gefühle, erst recht, wenn er ihre unbekannte
Heftigkeit fürchtet und Angst hat vor ihrer aufgestauten und lange verdrängten Wucht. Deshalb ist Berührung oft der bedeutungsvollste Tränenlöser, der für viele Patienten erst das lange verschlossene Tor zum Weinen öffnet. Erst eine angebotene Hand kann Verwirrung, Angst und Wut wie Verzweiflung, aber auch verschämt verdrängte Freude voll hervorlocken.

Die dargebotene Hand vermittelt eine biologische wie eine symbolische Botschaft: Ich bin dir gewogen, nicht feindlich gesonnen, ich kann dich ertragen, auch wenn du feindlich gesonnen bist. Ich verlasse dich nicht, dein Körper und damit dein Körperselbst ist mir nicht zuwider, auch wenn du zutiefst wütend auf mich bist, ja mich hasst. Dies ist, neben den mehr schützenden, die positiven Zuwendungsaffekte verstärkenden Botschaften die wichtigste Mitteilung: Es bleibt neben aller Feindschaft, Wut oder Zweifeln eine positive Verbindung erhalten, die bei einer die Beziehung gefährdenden Übertragung vor allem gegenüber dem
unsichtbaren und unberührbaren Analytiker ein zweites Band, ein erhaltenes verlässliches „Arbeitsbündnis“ garantiert und gegen die archaische Angst völliger Verlorenheit ankämpft. Sie fördert die Gewissheit, das die Welt nicht aus Bosheit und Feindschaft besteht und mildert paranoide Ängste vor Vernichtung und Zerfall, ja selbst vor totalem Beziehungsverlust.

Die klassische Psychoanalyse beraubt sich seit langem und mit immer zweifelhafter werdenden Argumenten und einer Weigerung, die vielfältigen Erfahrungen anderer Formen der Körpertherapie dankbar in ihren Kodex zu integrieren, einer Erweiterung und Vertiefung ihrer therapeutischen Möglichkeiten.

Die gravierenden Nachwuchsprobleme hängen nicht zuletzt mit der Strenge der Weitergabe einer scheinbar unumstößlichen Wahrheit der ausschließlichen Sprachform der Therapie zusammen. Viele Analytiker meiden eine begrenzte Selbsterfahrung in einer der erfolgreichen Körperpsychotherapien, weil sie Sorge tragen, sie müssten noch einmal umdenken in ihrem kostbaren, aber einseitigen Berufswissen.

Tilmann Moser
tilmann.moser@gmx.de

Einladung an alle Leserinnen und Leser zur Diskussion
Zuschriften an
redaktion@bbpp.org

ZURÜCK